«Am richtigen Ort aufblühen»

Bärner Brocki
Vom Leben herausgeforderte Menschen finden in der Bärner Brocki sinnvolle Arbeit, sozialen Halt und neue Perspektiven. 2025 feiert sie ihr 130-jähriges Bestehen. Der stellvertretende Leiter Mario Weber hat sich einigen Fragen gestellt.

Mario Weber, wir gratulieren der Bärner Brocki zum 130-jährigen Jubiläum. Das haben Sie hoffentlich gebührend gefeiert!
Danke, und wie! Mit allen Leuten, die in und um die Brocki herum arbeiten (Abteilungen der GEWA), haben wir im La Cappella «Clair Alleene» von Judith Bach, ein philosophisches Chansonkabarett genossen – als Dankeschön für die geleistete Arbeit. Am 9. Mai war unsere treue Kundschaft an der Reihe mit einer grossen Jubiläumsfeier inkl. Vernissage und Verkaufsstart des Brocki-eigenen Wimmelbuchs. Die Idee dafür fusst auf wiederholten Kommentaren an Betriebsführungen, es «wimmle» in der Brocki, sie erinnere an ein «Beielihuus» (Bienenhaus).

Gab es weitere Geschenke?
Was schenkt man sich, wenn man 130 Jahre alt wird? Genau, ein Lifting … Spass beiseite! Mit einem neuen Logo in frischer Farbe und dem Leitspruch «finde.bringe.träffe» haben wir 2025 unseren Auftritt und Auftrag geschärft. Die zwei miteinander verbundenen Hände stehen für den Übergang von «First Hand» zu «Second Hand».

Wie viele Menschen besuchen die Brocki pro Tag im Schnitt und wie viele Waren erhalten und verkaufen Sie?
Pro Tag verzeichnen wir über 1'800 Kundeneintritte – Warenannahme, Bistro und Verkaufsfläche der Bärner Brocki zusammengezählt. Wir dürfen dabei durchschnittlich 300 Spendeeinheiten entgegennehmen, z. B. einen Sack Kleider oder eine Kiste Bücher.

Damit auf den knapp 1000 Quadratmetern Verkaufsfläche alles reibungslos läuft, haben Sie eine beeindruckende Logistik aufgebaut. Schildern Sie bitte kurz die Geschehnisse im UG – im Bauch der Brocki!
Im Untergeschoss herrscht reges Treiben. Nach der Warenannahme beginnt hier die Verarbeitung der eingegangenen Artikel. Sie werden sorgfältig auf Funktionstüchtigkeit, Vollständigkeit und Qualität geprüft. Anschliessend werden sie systematisch mit Preisen versehen und für den Verkauf vorbereitet. Saisonale Artikel werden zwischengelagert und für den Abtransport in ein Aussenlager bereitgestellt.

Was unterscheidet die Bärner Brocki von anderen Gebrauchtwarenhäusern, was zeichnet sie aus?
Wir unterscheiden uns durch unsere lange Tradition und sozialen Wurzeln. Mit der Stiftung GEWA haben wir eine Trägerschaft. Kernauftrag ist die berufliche Integration von Menschen mit psychischen Herausforderungen. Wir haben stets den Menschen im Fokus und setzen auf klare Prozesse und Strukturen. Unser Ladenkonzept ist modern und urban, verbindet Nachhaltigkeit und Stil mit zeitgemässer Ästhetik. Nicht zu vergessen das 2021 eröffnete Bistro «zytlos» als Ort für Begegnung und Austausch.

Wie viele Mitarbeitende zählen zum Team der Bärner Brocki?
Bei uns arbeiten 150 Menschen, davon 30 in einer begleitenden Funktion.

Welche Ziele werden durch einen Arbeitsversuch oder eine Anstellung verfolgt?
Bei uns sollen Menschen einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen können, die ihren Möglichkeiten und Stärken entspricht und ihrem Alltag eine Struktur gibt. Wir orientieren uns an den individuellen Ressourcen unserer Mitarbeitenden und fördern sie gezielt. Die Vielfalt der Rayons, die bei uns sehr autonom agieren, unterstützt dies. Ziel der Beruflichen Integration ist es, wieder im allgemeinen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Gibt es ein besonderes Erfolgserlebnis?
Ich finde es immer wieder eindrücklich, Geschichten zu hören, die seitens GEWA von Mitarbeitenden erzählt werden – seit diesem Jahr im Rahmen unseres neuen Podcasts «Neustart».

Wie gelingt es, wirtschaftliche Anforderungen mit dem sozialen Auftrag der Inklusion zu verbinden?
Das stellt uns hin und wieder vor Herausforderungen. Die Anforderungen verleihen unserer täglichen Arbeit eine gewisse Sinnhaftigkeit. Wir möchten unseren Mitarbeitenden zutrauen, über sich hinauszuwachsen, ohne sie zu überfordern. Die Arbeit eines jeden ist wertvoll und wichtig, damit wir am Ende des Tages einen (wirtschaftlichen) Erfolg verzeichnen können.

Das Leitbild der GEWA basiert auf christlichen Werten; welche werden in der Bärner Brocki hochgehalten?
Wir versuchen unser Zusammenleben wertschätzend, grosszügig, ehrlich, zuverlässig, mutig, vertrauenswürdig, kompetent, kreativ und dankbar zu gestalten. Die goldene Regel aus der Bibel ist für uns elementar: Wir möchten mit unseren Mitmenschen so umgehen, wie wir selbst behandelt werden wollen (vgl. Matthäus-Evangelium, Kapitel 7, Vers 12). Jeder Mensch ist wertvoll und gleichwertig, unabhängig von seiner Leistung, seiner Ethnie, seinem Alter, seinem Geschlecht, seiner sexuellen Orientierung und seiner Religion.

Wie stehen Sie der «Hoffnung», dem Titel unserer Zeitung, gegenüber?
Wo Hoffnung wächst, übernehmen wir Verantwortung. Sie zeigt sich in kleinen Schritten, neuen Chancen und dem Glauben an sich selbst. Neuanfänge entstehen dort, wo Menschen einander ehrlich begegnen und wachsen dürfen – wie Pflanzen, die am richtigen Ort aufblühen.

Seit wann arbeiten Sie in der Bärner Brocki und was ist Ihre persönliche Motivation?
Für mich ist die Arbeit in der Brocki eine Herzensangelegenheit. Seit fünf Jahren bin ich dabei und darf meine Stärken wie Teamführung, Verkauf und Prozessoptimierung einbringen. Was mich besonders beeindruckt, sind die gelebte Wertschätzung auf allen Ebenen und die dienende Haltung, inspiriert vom biblischen Bild Jesu, der den Jüngern die Füsse wäscht. Diese Haltung motiviert mich, die Extrameile zu gehen. Ich bin dankbar, an einem Ort zu wirken, an dem Menschen einander stärken und gemeinsam wachsen.

Verfolgt die Bärner Brocki ein neues Projekt und was wünschen Sie ihr für die nächsten 130 Jahre?
Der Konsum verändert sich rasant, was auch die Qualität der Spenden beeinflusst. Gleichzeitig wächst der Druck durch Günstiganbieter. Umso dankbarer sind wir für die Treue unserer Kundinnen und Kunden. Mit kreativen Formaten wie Abendverkäufen oder Führungen möchten wir weiterhin überraschen. Ich wünsche mir eine Kundschaft, die den Wert hinter der Verkaufsfläche erkennt, und Mitarbeitende, die in ihrer Arbeit gesehen und geschätzt werden. Unseren Teamleitenden wünsche ich, dass sie spüren, wie viel Hoffnung sie täglich weitergeben. Auf viele weitere Jahre Bärner
Brocki!

SCHÄTZE UND CHANCEN

Ihren Anfang nahm die Bärner Brocki 1895, als der «Verein zur Unterstützung durch Arbeit» in der Altstadt ein Hadernhaus eröffnete. Ziel war es, bedürftigen und Menschen ohne Arbeit in Bern sowie Durchreisenden eine selbstbestimmte Existenz zu ermöglichen.

Fetzen und Fäulnis

«Hadern» hat in diesem Zusammenhang nichts mit Zwist oder Unzufriedenheit zu tun, es bezeichnet textile Fasern. Das Hadernhaus war eine Sammelstelle für Lumpen, die man andernorts zerkleinerte und mit Wasser zum Faulen brachte. Aus dem Brei, der sogenannten Pulpe, wurde mithilfe eines Siebs Papier geschöpft. Nach dem Trocknen versah man die Blätter mit Leim. Das Lumpenpapier war sehr beständig und langlebig – ein wunderbares Sinnbild für die Menschen, die sich bis heute in der Brocki engagieren. Vom Leben nicht gerade verwöhnt, können manche die harten Prozesse der Lumpenpapier-Produktion wohl ein Stück weit nachempfinden. Durch ihre sinnstiftende Arbeit und das Integriertsein dürfen auch sie Beständigkeit erfahren und stärker werden.

Konjunkturen und Konkurrenz

Ende des Ersten Weltkriegs stieg die Arbeitslosigkeit stark an und der Betrieb wurde ausgebaut. In den 40er-Jahren entstand eine Kleiderstube, die während der Textilrationierung günstige Kleidung und Schuhe anbot. Auch die Gastarbeitenden, die Anfang der 50er-Jahre in die Schweiz strömten, waren dankbar für Kleidung und andere Artikel des täglichen Gebrauchs zu fairen Preisen. Mit dem Aufkommen von Billigmöbeln in den 70er-Jahren änderten sich die Konsumgewohnheiten. Auch die Konkurrenz wuchs und sorgte immer wieder für finanzielle Bedrängnis. Schliesslich übernahm die GEWA (1986 vom Verein für Arbeitsbeschaffung gegründet) 1993 das Szepter – bis heute unter dem Namen «Bärner Brocki». Als  sozialwirtschaftliches Unternehmen ermöglicht die GEWA Menschen mit psychischen Herausforderungen einen Platz in der Arbeitswelt.

Saubere Sache/n

Nach mehreren Umzügen bereichert und belebt die Bärner Brocki seit 2016 das Lorraine-Quartier. Auch das direkt angegliederte Bistro «zytlos» mit frischen Backwaren aus dem eigenen Ofen macht den Ort zu einem beliebten Treffpunkt. Hellgelbe, haushohe Kachelwände im Bereich der Warenannahme, luftige, grossräumige Verkaufsflächen und diverse Stellen im Betonboden verraten es: In diesem ehemaligen Industriegebäude wurden einst Lastwagen gewaschen, inspiziert und wieder flott gemacht – genauso wie heute die tausenden von Gebrauchtwaren, die sorgfältig nach Bereichen, Themen und Farben sortiert und einladend präsentiert, auf ein neues Leben warten.

Autor: Manuela Herzog
Quelle: Hope Regiozeitung