Lyrisches in Gottes Wort

Auch in der Bibel findet man poetische Texte
«Die Bibel ist mehr als ein Buch.» Das wird deutlich, wenn du siehst, dass sie zu fast jeder literarischen Form etwas beizutragen hat – auf Bestseller-Niveau. In dieser kleinen Reihe entdeckst du die Bibel neu: vom Krimi bis zur hohen Literatur.

Wenn du einen Verleger heute zum Lachen bringen möchtest, dann sag ihm einfach: «Ich habe ein paar Gedichte geschrieben und würde sie gern bei Ihnen veröffentlichen. Das wird sicher ein Erfolg.» Lyrik ist im Buchhandel ein reiner Nischenmarkt geworden. Man kennt die grossen Dichterinnen und Dichter wie Rainer Maria Rilke oder auch Mascha Kaleko, deren 50. Todestag dieses Jahr war. Das bedeutet aber nicht, dass ihre Bücher gekauft würden. Goethe, Schiller und Co. sind eher als Namen ein Begriff – wer von den beiden die Ballade «Der Taucher» geschrieben hat, wüssten die Wenigsten. Aber nach wie vor gibt es Menschen, die Lyrik lieben – und vor allem gibt es die leichter zugängliche Form davon, die aus jedem Radio kommt oder von den verschiedenen Streamingdiensten verbreitet wird: Lieder, Schlager, Chansons, Songs – vertonte Lyrik, also Sprache, die in die Seele hineingemalt wird.

Und die Bibel?

Suchst du in der Bibel nach Gedichten, wie du sie in der Schule gelernt oder später gehört hast, wirst du kaum fündig werden. Allerdings enthält die Bibel in ihren Büchern nicht nur Gesetzestexte oder Erzählungen, dazu gehört immer wieder gestaltete Sprache – das, was man heute als Gedicht bezeichnen würde. Ein Endreim kommt darin nicht vor, allerdings immer wieder das hebräische Pendant: der Gedankenreim oder Parallelismus. Wenn David also in Psalm 28 sagt, «Der Herr ist meine Stärke und mein Schild», dann setzt er damit sehr ähnliche Gedanken nebeneinander, die seine Aussage zum Klingen bringen und verstärken. Überhaupt widerspricht vieles in der Bibel der landläufigen Meinung, dass darin unsortierte Beduinenerzählungen aneinandergereiht sind. Viele Texte sind sorgfältig gestaltet, sie haben nicht nur eine Aussage, sondern sind auch noch «schön» ausgedrückt. Treffend. Bildhaft. Konzentriert. Auf den Punkt gebracht. Bedeutungsvoll.

Texte, die klingen und treffen

Wenn du auf der Suche nach dem ersten Gedicht der Bibel im vierten Kapitel auf Lamechs anmassenden Spruch stösst, bist du allerdings bereits ein paar Seiten zu weit hinten. Das erste Gedicht der Bibel ist das Lied der Schöpfung, das uns bildhaft, sprachlich perfekt durchkomponiert und mit dem Refrain «Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: der x-te Tag» zeigt, woher wir eigentlich kommen.

Viele weitere folgen. Die bekanntesten sind sicher die Psalmen, aus denen Menschen bis heute Trost und Hoffnung ziehen, selbst wenn sie von Zweifeln zerrissen werden. Diese 150 Lieder drücken Hoch und Tief und Licht und Finsternis aus, wie es nur das menschliche Herz erleben kann. (Kleiner Tipp: Lies sie einmal in der Übertragung der Volxbibel. Viele von ihnen kommen darin als Rap vor und entfalten so eine ganz besondere Wirkung – wie zum Beispiel Psalm 8.) Interessant sind auch unbekanntere Perlen, die irgendwo im Text eingestreut vorkommen. Als die Israelis unter Nehemia die Mauer Jerusalems wieder aufbauen wollen, singen sie dabei ein Frustlied, das die Gute Nachricht so übersetzt:

«Der Schutt nimmt ja doch nie ein Ende,
wir haben schon ganz lahme Hände!
Wir sind viel zu müde und matt,
zu bauen die Mauer der Stadt.»

Im Neuen Testament schwingt sich Paulus mit dem Christushymnus aus Kolosser, Kapitel 1, zu besonderen Höhen im Lobpreis auf. «Dieser ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes…», singt er darin. Und von der Bergpredigt bis hin zum Buch der Sprüche enthält die Bibel viele kurze, prägnante Ideen, die nicht nur stimmen, sondern auch noch gut dabei klingen. Bei manchen lyrischen Gedanken muss man unwillkürlich schmunzeln, weil sie voller Witz oder Ironie sind – wenn zum Beispiel Hiob seinen Freunden verkündet: «Wahrlich, ihr seid die rechten Leute, und mit euch wird die Weisheit aussterben!» Meist steht nicht «Lied» als Überschrift darüber und, wie schon gesagt, reimt sich kaum etwas in der Bibel, aber viele ihrer Sätze sind nicht nur treffend, sondern sie klingen und swingen beim Lesen.

Mehr als gut gereimt

Scheinbar ist die Bibel lyrischer als viele denken. Und die sprachlichen Höhenflüge darin machen nicht nur das Lesen immer wieder zum Genuss. Sie sorgen regelmässig dafür, dass Menschen, die sich für schöne Sprache interessieren, dabei auf die Bibel stossen – einfach nicht an ihr vorbeikommen. Der Rezitator und Gedichteliebhaber Lutz Görner stand nicht nur mit «Goethe für alle» auf der Bühne, sondern auch mit seinem Programm «Die Bibel». Dasselbe gilt für den Schauspieler und Sänger Ben Becker. Und dass der Dichter und Atheist Bert Brecht auf die Frage nach dem Buch, das den grössten Eindruck bei ihm hinterlassen hatte, antwortete: «Sie werden lachen, die Bibel!», ist sprichwörtlich geworden. In seiner inhaltlichen Beurteilung werden ihm viele Christen nicht komplett folgen, wenn er in seinen Tagebüchern notiert: «Ich lese die Bibel, ich lese sie laut, kapitelweise, aber ohne auszusetzen, Hiob und die Könige. Sie ist unvergleichlich schön, stark, aber ein böses Buch.» Aber es ist schon spannend, dass Atheisten und Christen sich darin einig sind: schön ist sie.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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