Wie wir von Abraham beten lernen können

Von Abrahams Fürbitte können wir viel lernen
Abraham und Mose waren wohl die grössten Fürbitter des Volkes Israel. Sie bestürmten Gott geradezu – und konnten vieles bewegen. Was können wir von ihnen lernen, von ihrem Gebet, aber auch von ihrer Beziehung zu Gott?

Ich gäbe zweihundert Goldgulden, wenn ich beten könnte wie die Juden. Sie haben es eben von dem gewaltigsten Beter, von ihrem Lehrer Moses gelernt, und ihn hat Gott selber unterwiesen!» Das meinte Martin Luther. Er bezog seine Aussage auf den intensiven Fürbitte-Dialog zwischen Mose und Gott, als sich Israel durch das goldene Stierbild gegen Gott versündigte. Dank Moses beharrlicher Fürsprache (2. Mose Kapitel 34, Verse 6-7) haben wir einen unvergleichlichen Einblick in Gottes Wesenszüge: Der drei-eine Gott ist ein barmherziger, gnädiger und heiliger Gott.

Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung könnte man im Blick auf Abrahams Fürbitte für Sodom gelangen. Der Gebetsdialog zwischen Abraham und Gott – es geht um das Schicksal von Sodom und Gomorra – ist die erste prophetische Fürbitte in der Bibel (1. Mose Kapitel 18, Verse 17-33). Abraham kann also als Prototyp eines Fürsprechers bezeichnet werden. Von ihm sind wertvolle Hinweise zum Thema Gebet zu erwarten.

Wie kam es zu diesem Gebetsdialog? Auslöser war der Besuch von drei geheimnisvollen Männern bei Abraham und Sara in Mamre (V. 14-15). Sie bringen die Verheissung eines Nachkommen für das Elternpaar – aber auch die Ankündigung, Sodom zu besuchen, um zu sehen, was es mit dem Schrei der Unterdrückten auf sich hat. In Vers 16 erfolgt dann der Übergang von der Szene der Gastfreundschaft (V. 1-15) zum Gebetsdialog (V. 17-33).

Als sich die beiden Boten Sodom zuwenden, stellt Gott sich die Frage, ob er nicht Abraham in seine Pläne einweihen solle. Abraham, so könnte man sagen, darf also mithören, was im «himmlischen Rat» besprochen wird. Ein Privileg, das später nur die Propheten geniessen (Jeremia Kapitel 23, Vers 18). Zwei Kapitel später wird Abraham tatsächlich als Prophet bezeichnet (1. Mose 20,7.17).

Gott teilt seine Gedanken mit Abraham

Es ist charakteristisch für Israels Propheten, dass sie in die göttlichen Pläne eingeweiht werden (vgl. 2. Mose Kapitel 32, Verse 7-10). Bei Amos heisst es: «Gott der Herr tut nichts, ohne seinen Knechten, den Propheten, sein Geheimnis zu offenbaren» (Kapitel 3, Vers 7). Gott teilt Abraham sein Vorhaben mit, damit Israels Stammvater seine Nachkommen in der Gerechtigkeit unterweisen wird und sie lehrt, auf dem Weg des Herrn entsprechend zu handeln. Die Prüfung folgt sogleich.

Vor Gott stehen

Die drei Männer machen sich nach Sodom auf. Doch Abraham bleibt vor Gott stehen, als würde er sagen: «Halt, einen Moment bitte, lass uns erst über dein Vorhaben reden!» «Stehen vor Gott» ist im Hebräischen ein Fachausdruck für die Fürbitte (vgl. 1. Könige Kapitel 17, Vers 2; Jeremia Kapitel 18, Vers 20). Dieser Ausdruck und der damit verbundene Dienst haben ihren Ursprung hier bei Abraham.

Eine ähnliche Situation finden wir später am Gottesberg Sinai. Nachdem Israel das goldene Stierbild anbetete, wurde Gott zornig und kündigte Moses die vernichtende Strafe über das halsstarrige Volk an (2. Mose Kapitel 32, Vers 10). Doch weder Mose noch Abraham lassen Gott ohne Wenn und Aber ziehen. Und darauf hat Gott es offenbar angelegt: Er hat ja die beiden Gottesmänner im Voraus über sein Vorhaben informiert. Gott eröffnet also den Dialog, weil er seine Beter in den göttlichen Gerichtsprozess mit einbeziehen möchte.

Es gibt noch mehr gute Gründe zur Annahme, dass Gott geradezu eine Gebets-Reaktion provoziert oder zumindest erwartet. Möglicherweise besagte der hebräische Text nämlich ursprünglich, dass der Herr noch vor Abraham stehen blieb und nicht umgekehrt. Im Buch Hesekiel sagt Gott: «Ich hielt Ausschau nach einem unter ihnen, der vor mir für das Land in die Bresche springt, damit ich es nicht zerstöre, aber ich fand niemanden» (Hesekiel Kapitel 22, Vers 30). Es ist also nicht ganz klar, ob Abraham sich Gott mutig in den Weg stellt und Gott zu einem Gebetsgespräch herausfordert – oder ob Gott vor Abraham stehen bleibt und quasi darauf wartet, dass Abraham für Sodom in den Riss tritt. Auf jeden Fall hat Abraham verstanden, dass Gott ihn unausgesprochen einlädt, am Entscheidungsprozess teilzunehmen.

In der Fürbitte bringt Abraham folgende Anliegen vor Gott (V. 23-25):

Sollte der Richter der ganzen Welt nicht Recht üben?

Abraham stellt die Frage der himmlischen Gerechtigkeit: «Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen?» Es wäre ungerecht, wenn die Gerechten das gleiche Urteil erfahren wie die Gottlosen.

Zudem appelliert Abraham an Gottes Gnade: «Willst du (die Gerechten) wirklich wegraffen und dem Ort nicht vergeben um der fünfzig Gerechten willen?» Abraham bittet also nicht für eine Evakuierung der Gerechten aus der Gefahrenzone, sondern darum, dass Gott die Sünde der ganzen Stadt um der Gerechten willen ertrage möge!

Abraham wirft hier eine der heikelsten theologischen Fragen auf: Die sogenannte Theodizee-Frage. Ist Gott wirklich gerecht? Interessanterweise geht Gott nicht direkt auf Abrahams Fragezeichen ein. Vielmehr bestätigt der Herr fast wortwörtlich Abrahams Bedenken: «Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, werde ich dem ganzen Ort um ihretwillen vergeben» (V. 26). Die Zahl Fünfzig hat Abraham von sich aus in den Dialog eingeworfen. Warum eigentlich beginnt er sein Verhandeln mit fünfzig Gerechten? Glaubt er, dass diese Zahl leicht zu erreichen ist? Auf jeden Fall ermutigt die göttliche Antwort ihn zum Weiterbeten. «Sieh, ich habe es gewagt, zu meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen von den fünfzig Gerechten fünf» (V. 27-28). Gott lässt sich darauf ein und versichert, dass die Stadt nicht vernichtet wird, wenn man dort 45 Gerechte findet. Und so geht es weiter: Und wenn es nur 40 sind? 30? 20?

Die Gebetsdynamik: Von Gott gelehrt

Das Gespräch zwischen Gott und Abraham wird manchmal mit dem Feilschen auf einem orientalischen Basar verglichen. In dieser Analogie würde man jedoch erwarten, dass Abraham mit einer leicht erreichbaren Zahl beginnt. Gott hingegen würde als «Verkäufer» mit einer übermässig hohen Zahl anfangen – vielleicht mit 200 Gerechten. Abraham würde dann den Preis langsam erhöhen, Gott würde ihn senken, und am Ende würden sie sich irgendwo in der Mitte treffen (vielleicht bei 100 Gerechten). Doch das ist nicht die Dynamik, die wir im Gebetsdialog antreffen.

Es entsteht eher das Bild von einem Kind, das die elterlichen Grenzen testet. Der britische Theologe John Goldingay zieht den Vergleich eines Pfarrers, der seinen Vikar ausbildet. Dabei geht es dem Pfarrer darum, den zukünftigen Gemeindeleiter in den Lernprozess einzubeziehen. Die Vision für die Gemeinde muss letztendlich umgesetzt werden, aber der Weg dorthin muss ein Lernprozess sein, sonst wird das Ziel nicht erreicht. Lernprozess – ja, das berührt sich mit dem, was Gott mit Abraham vorhat, denn Abraham soll ja dann andere lehren (1. Mose Kapitel 18, Vers 19).

Nach fünfmaligem Bitten fasst sich Abraham ein letztes Mal ein Herz und sagt: «Mein Herr zürne nicht, wenn ich dies eine Mal noch rede. Vielleicht finden sich dort zehn.» Abraham ist vorsichtig mit seiner letzten Bitte. Befürchtet er, dass sein beharrliches Bitten die göttliche Geduld überstrapaziert? Aber Gott ist ebenso entschlossen, die Sünden der gottlosen Stadt um der Zehn willen zu ertragen.

Eine wichtige Einsicht in das Wesen Gottes

Ist es nicht interessant, dass Abraham und nicht Gott den Gebetsdialog bei zehn Gerechten stoppt? Was sind mögliche Gründe, warum Abraham bei zehn Gerechten aufhört?

  • Ist sich Abraham letztlich doch gewiss, dass das Urteil des Herrn gerechtfertigt ist?
  • Sind zehn Gerechte die kleinste Einheit, die noch positiven Einfluss auf ein gottloses Umfeld nehmen können?
  • Ist Abraham einfach beruhigt, dass sein Neffe und dessen Familie verschont bleiben (Kapitel 19, Vers 29)?

Jedenfalls lernt Abraham nicht nur etwas über die rettende Rolle einer gerechten Minderheit, sondern auch eine wichtige Lektion über Gottes Gerechtigkeit. Es ist eine Gerechtigkeit, die von göttlicher Gnade und Barmherzigkeit geprägt ist.

So viel zum Inhalt und zur Dynamik dieses Gebetes. Ziehen wir abschliessend noch ein paar grössere theologische Kreise!

Die Gebets-Theologie-Spirale

Wer betet, begibt sich in ein Geschehen, bei dem er viel über Gott und seine Wege lernen wird. Gebet und Gotteserkenntnis stehen in einem Spiralverhältnis zueinander. Aufgrund von Gottes Gebetsantworten wagt es der Fürbitter, mit neuer tieferer Erkenntnis weiterzubeten. Im Gebetsdialog wird es Abraham immer klarer, dass Gott ein barmherziger, gnädiger und langmütiger Gott ist – der dennoch an Recht und Gerechtigkeit festhält (vgl. 2. Mose Kapitel 34, Vers 6-7). Abrahams «Theologie» wurde von Gott selbst gelehrt.

«Abrahamische Spiritualität»

In Abrahams Gebet erkennen wir den prägenden Wesenszug, der auch spätere biblische Spiritualität kennzeichnet: eine kühne und doch demütige «Ich-Du-Beziehung» zu Gott. Diese finden wir später auch bei Mose, Jeremia, in den Psalmen und schlussendlich bei Jesus. Diese Gotteserkenntnis, diese «abrahamische Spiritualität», die im Gebet hervortrat, wird an die nächste Generation weitergegeben (18,19).

War Abrahams Gebet erfolgreich?

Sodom und Gomorra wurden am Ende doch durch Gottes Gericht vernichtet. War also Abrahams Gebet für diese gottlosen Städte vergeblich gewesen? War das Gebet nur insofern erfolgreich, als Lot und seine Töchter gerettet wurden?

Einerseits ist dieses Gebetsergebnis ernüchternd, andererseits zeigte sich durch den Gebetsdialog, dass Gott keinen Gefallen am Tod der Gottlosen hat (Hesekiel 33,11). Abrahams Frage: «Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?» hat eine klare Antwort gefunden. Gott zeigt, dass er viel gnädiger und barmherziger ist, als Abraham anfangs zu erbitten wagte. Allerdings ist es keine «billige Gnade» (2. Mose 34,6-7).

Und mehr noch: Dank Abrahams Gebet wissen wir, dass auch eine kleine Minderheit von Gerechten die Mehrheit der Gottlosen zumindest «vorübergehend» vor Gottes gerechtem Gericht bewahren kann.

Betet (auch) für eure Feinde!

Es ist erstaunlich, dass Abraham für gottlose Heiden eintritt. Wir beten oft für Menschen und Projekte, die wir unterstützen. Beten wir auch für die Sodoms und Gomorras dieser Welt (vgl. Jeremia Kapitel 29, Vers 7; Matthäus Kapitel 5, Verse 44-47)? Abraham und seine geistlichen Nachkommen sind berufen, zum Segen in der Welt zu werden (1. Mose Kapitel 12, Vers 3; 1. Timotheus Kapitel 2, Verse 1-4; 1. Petrus Kapitel 2, Vers 9). Die Fürbitte ist das Christus-ähnlichste Gebet, denn sie stellt die Bedürfnisse anderer vor die eigenen.

Freilich müssen wir uns bei der Fürbitte vor moralischer Überheblichkeit hüten. Christen beten im Bewusstsein, dass unsere Gebete ohne das Werk von Christus weder würdig noch wirksam sind. Nur dank dem Kreuz und der begleitenden Fürbitte von Jesus können wir freimütig vor den himmlischen Thron treten und darauf vertrauen, dass unsere Bitten erhört werden (Hebräer Kapitel 4, Verse 14-16; Kapitel 7, Vers 25).

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Zum Thema:
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Autor: Dr. Michael Widmer
Quelle: Magazin Faszination Bibel 02/2025, SCM Bundes-Verlag