Zwischen Rückzug und Aufbruch

Mathias Künzi
Mathias Künzi arbeitet als Sozialpädagoge im Grosshaus Aeschi. In dieser Aussenwohngruppe leben zehn junge Menschen mit der Diagnose Autismus-Spektrum. Künzi und sein Team wollen das Potenzial wecken, das in den Jugendlichen schlummert.

«Einige Jahre als Jungschärler aktiv – und die Ausbildungskurse gehören einfach dazu», erzählt Mathias Künzi und schmunzelt. «So bin ich in die Jugendarbeit hineingerutscht und lernte, Verantwortung zu übernehmen.» Mit zwei Schwestern verbringt er seine Kindheit im Kanton Freiburg. Die Familie besucht eine Freikirche, Mathias wächst mit Sonntagsschule und Jungschar auf. Er lernt Bauspengler und setzt sich danach intensiv mit dem Leben und Vorbild von Jesus Christus auseinander. Während dieser Zeit verstärkt sich sein Wunsch, beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Berufsbegleitend studiert er Sozialpädagogik. Hier lernt er die Mitstudentin Sybille kennen. Seit neun Jahren sind die beiden verheiratet und Eltern von zwei Pflegekindern, zwei und drei Jahre alt. Mathias blickt auf zehn Jahre im Grosshaus zurück und arbeitet heute als verantwortlicher Bereichsleiter der Aussenwohngruppe in Aeschi.

Auf Schatzsuche

Die Einrichtung setzt bewusst auf christliche Werte. An der Fassade des Internats steht auf einem kleinen blauen Plakat: «Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz.» Diese Weisheit aus der Bibel (1. Samuel 16, Vers 7) motiviert das Team, auf die inneren Schätze der Schülerinnen und Schüler zu fokussieren. Alle zeigen Merkmale aus dem Autismus-Spektrum. «Das Spektrum ist weit und die Ausprägung sehr unterschiedlich», hält Mathias fest. «Bei Mädchen fällt es oft nicht auf.» Sie könnten durch Beobachten soziale Interaktion in ihr Verhalten integrieren, etwa beim Begrüssen Blickkontakt aufnehmen, obwohl sie das nicht nötig fänden. Auch seien sie in der Lage, Empathie zu zeigen, indem sie in Beziehungen ihre Gefühle teils offenbaren und feinfühlig auf das Gegenüber eingehen. 

«Das Spektrum ist weit und die Ausprägung sehr unterschiedlich.»

Höhere Hilfe

Betroffene des Autismus-Spektrum vermögen Mimik und Gestik oft nicht zu «lesen» und leiden unter Reizüberflutung. Es kann vorkommen, dass sie überreagieren, aggressiv werden oder sich verweigern, wenn sie überfordert sind. «Die Gesellschaft passt sich ihnen grösstenteils nicht an – sie müssen selbst Wege finden, wie sie in der Aussenwelt klarkommen», hält Mathias fest. Hierbei werden die Jugendlichen im Grosshaus Aeschi, einer Aussenwohngruppe des Grosshaus Diemtigen, unterstützt. Die Betreuenden fördern und fordern ihre Schützlinge im festen Glauben, dass Gott leitet und begleitet. Gebetszeiten im Team, auch für die ihnen anvertrauten Jugendlichen, sowie das tägliche Tischgebet gehören zum Alltag. Niemand muss sich diesbezüglich unter Druck fühlen: «Wenn die jungen Leute Fragen haben, geben wir Auskunft, drängen ihnen unsere Gesinnung aber keinesfalls auf», sagt Mathias bestimmt.

Auf- und Annahme

Dass sich die Jugendlichen nicht so verhalten wie alle anderen, führt in der Regelschule oft zu Ausgrenzung oder Mobbing. Wenn die Kinder oder Jugendlichen dann depressiv werden oder Suizidgedanken äussern, landen sie in der Psychiatrie. Im Grosshaus Aeschi finden junge Menschen ab zehn Jahren Aufnahme – und Annahme. Zwei Fachpersonen begleiten die zehn Schülerinnen und Schüler der internen Schule bis zum Schulabschluss persönlich. Es gilt, das Potenzial der Jugendlichen zu entdecken und zu entfalten. Mathias erläutert: «Sie können einige Lektionen mit unserem Informatiker an einem Projekt arbeiten oder innerhalb des Bauteams verschiedene handwerkliche Tätigkeiten kennenlernen. In den meisten Fällen schnuppern sie an verschiedenen Orten in der Region – mithilfe der IV zum Teil im 2. Arbeitsmarkt, wo auch Ausbildungsmöglichkeiten bestehen.» Kommen ADHS in ausgeprägter Form, Narzissmus und psychische Nöte wie Ängste oder Zwänge dazu, kann das Team nicht immer alles auffangen. «Zuversichtlich, dass Gott an der Seite der Jugendlichen bleibt, überlassen wir solche Fälle fachkundigen Personen», erklärt Mathias.

Verstehen statt verändern

Regelmässigkeit, Orientierung und Ordnung sind für alle wichtig, damit der Alltag gelingen kann. Bei Bedarf werden wiederkehrende Abläufe besprochen und auf Merkzetteln festgehalten. «Darauf steht zum Beispiel, was nach dem Aufstehen gemacht werden muss oder welche Kleider sich an welcher Stelle im Schrank befinden», so der Pädagoge. Menschen aus dem Autismus - Spektrum reagieren oft sehr heftig auf Lärm, Licht, Veränderung. Es kann sein, dass ein Jugendlicher nicht in die Turnhalle will, weil es ihm dort zu hell ist, zu laut und hektisch zugeht. «Er schaut dann durch die Glastür zu und macht später einen Spaziergang mit einem von uns», hält Mathias fest. Bei jedem Kind wird sorgfältig abgewogen, was schon möglich ist und wo es noch Geduld und schrittweise Annäherung braucht. 

«Wenn Arbeitgeber flexibel sind, gewinnen sie mit jungen Autismus-Betroffenen begabte Mitarbeitende.»

Unbefangen aufeinander zugehen

Einmal habe eine Mutter beim Eintritt ihres Kindes darauf hinwiesen, dass es ausserhalb der Familie nie in ein Auto steigen würde. Das Team ging dennoch unbefangen auf den Jungen zu, um zu sehen, was möglich war. «Zwei Wochen später setzte sich der Junge wie seine Kameraden ins Auto und fährt seither anstandslos mit», freut sich Mathias. Er erzählt von einer Gymnasiastin und begabten Pianistin, die Mühe hatte, allein den ÖV zu nutzen und fügt an: «Ihr Schrank war ein einziges Chaos …» Auch hier sind kleine Schritte in Richtung Ordnung und Selbständigkeit hilfreich. Ein Ehemaliger hat auf diese Weise Grosses geleistet. Er absolvierte erfolgreich die Ausbildung EFZ im IT-Bereich und holt nun die Berufsmatura nach. «Solche Geschichten ermutigen uns!», strahlt Mathias Künzi. «Wenn Arbeitgeber flexibel sind, gewinnen sie mit jungen Autismus-Betroffenen begabte Mitarbeitende.»

«Wir trauen dir das zu!»

Zutrauen und Selbstvertrauen

Einen Teil der langen Sommerferien verbringen die Grosshaus-Bewohner gerne vor Ort. Neues und Ungewohntes kann sie schnell überfordern. Deshalb sorgen Tagesausflüge für eine angemessene Abwechslung. Ein mehrtägiges Lager wäre zu intensiv. Abends wieder im eigenen Zimmer und Bett zu liegen, gibt ihnen Sicherheit. Doch die Jugendlichen werden auch ermutigt, etwas zu wagen. So radelte eine Gruppe nach Bern, eine andere paddelte auf dem Thunersee. Sogar Gleitschirmfliegen steht auf der Liste. Wenn ein Jugendlicher den ermutigenden Worten der Pädagogen «Wir trauen dir das zu!» Glauben schenkt und den Sprung wagt, ist die Freude bei allen unbeschreiblich. Dann hat er im wahrsten Sinn des Wortes seine Flügel ausgebreitet und ist vertrauensvoll ins Ungewisse gesprungen. «Ein wunderbares Bild für das Leben der jungen Menschen hier», findet Mathias Künzi.

ZUR PERSON

Einer meiner Lieblingsplätze in Aeschi:
Aeschiallmi auf dem Niesenbänkli, mit Blick ins Kandertal, auf den Thuner- und Brienzersee

Lieblingsserie oder Lieblingsbuch:
«The Chosen» und «The Good Doctor», weil der Hauptdarsteller einen Autisten spielt

Meine liebste Jahreszeit:
Sommer, da man viel draussen unternehmen kann, sei es Rennvelofahren, baden, grillieren usw.

Diese App auf meinem Handy haben nicht alle:
Relai, eine Schweizer Krypto-App, über die man Bitcoin kaufen oder verkaufen kann

Autor: Mirjam Fisch
Quelle: Hope Regiozeitung