Das letzte Hemd hat keine Taschen
Wenn es um «genug» geht, denken wir schnell an materielle Dinge. Und davon haben die meisten von uns in der Tat genug. Manchmal wird all das zum Ballast. Da muss etwa die Boomer-Generation die Wohnungen und Häuser ihrer verstorbenen Eltern räumen und findet nicht nur vertraute und unbekannte Schätze, sondern oft endlos Dinge, die man eben noch brauchen kann oder brauchen könnte ... Und in diesen Dingen und ihrem konsequenten Sammeln und Aufheben eben auch den handfesten Niederschlag der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit all seinen Verwerfungen und Verlusten.
Frühzeitig reduzieren
Auch bei vielen Jüngeren sind viele Speisekammern und Kleiderschränke voll (irgendwie haben viele von uns die Erfahrungen und Strategien der Eltern und Grosseltern verinnerlicht!), viele Geldanlagen prall gefüllt. Andere fragen – schon um nicht zu ersticken in all dem Krempel –, wann es eigentlich genug ist und sind fasziniert vom Minimalismus, etwa den Tiny Houses. Erstaunlich, was man auf so wenig Platz unterbringt und mit wie wenig man auskommen kann. Ich selbst habe als Erwachsener einmal monatelang aus zwei Koffern und mit einem halben Dutzend Schuhen gelebt – und war überrascht, wie gut das geht.
Reduziert wird oft erst, wenn es alternativlos wird: zuerst auf eine kleine oder kleinere Wohnung, dann irgendwann ein Zimmerchen im Heim, zum Schluss vielleicht nur noch ein 1,60 m²-Bett im Pflegeheim oder Hospiz, dann die Holzkiste und das letzte Hemd, das keine Taschen hat.
Anregungen und Aufforderungen gäbe es eigentlich genug, auch in der Bibel: Da ist etwa Paulus, der gelernt hatte, sich genügen zu lassen, «wie’s mir auch geht» (Philipper Kapitel 4, Vers 11), auch mit wenig: «Die Frömmigkeit aber ist ein grosser Gewinn für den, der sich genügen lässt» (1. Timotheus Kapitel 6, Vers 6). «Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen» (Kapitel 6, Vers 8, also eine Willensentscheidung!). «Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist» (Hebräer Kapitel 13, Vers 5).
Verzicht einüben
Wie leicht und beschwingt könnten manche von uns mit weniger Ballast durchs Leben gehen! So vieles, um das man sich nicht kümmern bräuchte. Ist die einzige Frage, was ich mir leisten kann? Was möchte ich mir leisten? Worauf verzichte ich freiwillig, auch wenn ich es mir leisten könnte? Wann ist bei meiner Erwerbsarbeit genug? Kenne und halte ich Grenzen ein, bevor ich Pause machen muss, weil Körper oder Seele streiken und mich zwingen? Viele sind nach einschneidenden Erlebnissen und Zeiten einigermassen vernünftig geworden, andere suchen noch ihr «Mass»… Eine Herausforderung, die für alle bleibt, weil sich Umstände ändern. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ein Herzinfarkt, ein paar Tage auf der Intensivstation und eine Reha sehr ins Nachdenken bringen… Vielleicht heisst «genug» auch ein Verzicht auf eine Beförderung oder einen Wechsel, die zwar mehr Geld und Anerkennung brächten, aber eben auch mehr Verantwortung, Stress oder längere Arbeitszeiten und Wege. Für wen oder was «verkaufe» ich mich denn? Immer dran denken: An meinem offenen Grab werden Familie und Freunde stehen, nicht die Kollegen und Geschäftspartner von einst! Wann heisst es, beruflich «loszulassen»? Wann haben wir genug gewirbelt und «geprägt», wann sind andere dran und dürfen endlich dran sein? Bin ich wirklich so wichtig und unverzichtbar? Muss ich bis zum Renteneintritt grell blinkend auf der Überholspur rasen und alles dominieren?
Wann ist es in meiner Kirchengemeinde genug? Während früher manche älteren Christen nicht loslassen konnten, melden sich heute manche recht früh ab, vielleicht mit dem erklärten Motiv, dass «unten» nichts nachkommen kann, wenn oben nichts geht, ansonsten sind es oft Erschöpfung, familiäre Verpflichtungen, geistliche Krisen oder der kommende Ruhestand, der sich mit Verbindlichkeit nicht mehr recht verträgt. Wann darf ich gehen, wann muss es genug sein? Wann mache ich mich vom Acker, nur weil es mühsam wird oder keinen Spass macht?
Kein wandelndes Defizit
Wann haben wir gemeinsam oder allein genug gebetet, gegeben, mitgearbeitet, gesungen und gedient? Ich erinnere mich an eine Situation während meines Studiums, als wir Studierenden wegen irgendeines dramatischen Anlasses über die Pause hinaus in der folgenden Unterrichtseinheit weiterbeten wollten. Da kann man doch nicht dagegen sein! Doch der Dozent lehnte dies strikt ab: «Wir haben die Sache vor Gott gebracht; sie ist in seinen Ohren und er wird zu seiner Zeit handeln… Und wir fahren jetzt mit der Dogmatik fort!» Damals erst mal «Schluck», heute Verständnis. In mancher christlichen Sozialisation, manchen Gesprächen und Gottesdiensten ist man immer wieder, vielleicht dauerhaft ein «wandelndes Defizit» und wird als solches angesprochen. Hand aufs Herz: Wer betet denn schon genug? Wer liest genug in der Bibel? Wer bekennt genug? Wer hilft anderen genug? Sie vielleicht? So wird der Alltag zum Frust, zur andauernden Busse für etwas, was man realistisch gar nicht «leisten» kann.
Ein bekannter deutscher Autohersteller wirbt mit dem Slogan «Das Beste oder nichts». Pfiffig von einer Werbeagentur ausgedacht. Soll ja nur die hohe Qualität der eigenen Karren unterstreichen. Dafür schon in Ordnung… Aber als Lebensmotto völlig unrealistisch und in letzter Konsequenz toxisch. Oft kann es «das Beste» schlichtweg gar nicht sein, denn unsere Ressourcen, meine Gaben und meine Zeit sind begrenzt und oft ist das Beste auch gar nicht nötig. Oft reichen 50, 60 oder 70 Prozent völlig aus. Welcher völlig unrealistische Anspruch ist damit verbunden und vielleicht auch Arroganz und Anspruchsdenken, so als sei für mich das Beste gerade gut genug! Hallo, wer bin ich denn?
Ein gutes Mass finden
In allen angerissenen Bereichen gilt es, ein Mass – sein Mass – zu finden. Was kann ich überhaupt leisten, wenn ich nicht an mir und anderen Raubbau betreiben will? Was genügt wann im besten Sinn? Und wann bin ich gefordert, wann heisst es, aus der Deckung zu kommen und anzupacken, wenn Gott mir Aufgaben vor die Füsse legt? Wann muss ich meine Prioritäten überdenken und die Schätze im Himmel vor Augen haben? Am besten: keine schnellen Entscheidungen, sondern prüfen: Wann und warum frustriert mich etwas? Was kostet Kraft? Sind es die Umstände? Was liegt an mir und meinen Ansprüchen? Was darf und kann ich getrost lassen und was muss ich lassen? Nach welchen Prioritäten entscheide ich? In alledem: das Gespräch mit Gott und vertrauten Menschen suchen…
Prof. Dr. Christoph Stenschke ist Dozent an der Biblisch-Theologischen Akademie Forum Wiedenest, Bergneustadt und Privatdozent an der Universität Bonn. Interessiert an mehr solcher Impulse von MOVO? Gönne dir oder Freunden jetzt einen günstigen Jahresabogutschein des Magazins hier.
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