Dienstag, 21. Mai 2024

Ein offenes Haus in St. Silvester

Esther Köppel
Seit vielen Jahren hat Esther Köppel ein Herz für Menschen aus aller Welt. Dass sie trotz Erschöpfungsdepression Flüchtende aus der Ukraine bei sich zu Hause aufnimmt, kommt nicht von ungefähr.

Esther Köppel und ihr Mann Urs leben in St. Silvester im Sense-Oberland. Beide haben ein grosses Herz für Menschen. In den letzten Jahrzehnten gingen Männer und Frauen aus mehr als 70 Nationen bei ihnen ein und aus. Dass sie im März 2022 auch Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen würden, lag für Köppels nah.

Vom Traum zur Arbeit mit Migranten

1991, vier Jahre nach ihrer Hochzeit, entdeckten Esther und Urs den christlichen Glauben. «Damals haben wir Gott unser Haus geweiht und dafür gebetet, dass er es mit Menschen füllen möge.» Esther erinnert sich: «Im Mai 1999 hatte ich einen Traum. Eine Asylantin fragte mich, weshalb ich ihr nicht helfen würde...» Der Traum liess Esther keine Ruhe. Sie meldete sich beim Roten Kreuz, doch damals gab es dort nichts für sie zu tun. Ein halbes Jahr später tauchte in ihrer Kirche ein nigerianischer Flüchtling auf. Das war ihr erster Kontakt mit einem Asylsuchenden. Esther lernte Englisch und traf kurz darauf eine iranischen Familie. Der Vater versuchte vergeblich, Arbeit als Arzt zu finden. Einen Tag nachdem Esther und Urs für die Situation gebetet hatten, erhielt der Mann einen Job als Assistenzarzt. «Im November 2004 begegnete ich einer bosnischen Familie und erlernte deren Sprache», fährt Esther fort. «Obwohl sie sechs Monate später nach Bosnien-Herzegowina zurück-kehrten, blieb unsere Freundschaft bestehen. Wir haben sie seither mehr als 30 Mal besucht.»

Arbeit unter internationalen Studenten

Bis 2008 engagierte sich Esther stark im Asyl-zentrum und half beim Aufbau eines Projekts mit: «Wir kochten Essen, spielten mit den Kindern und förderten die Gemeinschaft.» Anfang 40 fand sie als Betreuerin von internationalen Studenten ihren Traumjob. Voller Begeisterung arbeitete sie für die VBG, einen christlichen Hochschulverein. 2015 wurde Esther abrupt ausgebremst, sagt dazu: «Während einer Weihnachtsfeier brach ich aus unerklärlichen Gründen zusammen. Ich konnte nicht mehr aus dem Haus. Als ich nur noch schlotterte, ging ich zum Arzt und wurde krankgeschrieben.» Neun Monate blieb Esther zu Hause und begann dann wieder zu arbeiten. Sie steigerte das Pensum langsam, 2018 betrug es 40 Prozent. Doch dann erfolgte der zweite Zusammenbruch und Esther musste ihre geliebte Arbeit aufgeben. In den folgenden Jahren konnte sie kaum Menschen treffen, was für sie als Beziehungs-mensch schwer zu ertragen war.

«Als ich nur noch schlot-terte, ging ich zum Arzt und wurde krankgeschrieben.»

Wenn in der Nacht die Luft wegbleibt

Gesundheitlich erhielt sie bald eine unerwartete Diagnose. Esthers Hausarzt hatte eine der Ursachen für ihre Erschöpfung entdeckt: «Man fand heraus, dass ich starke Schlafapnoe gehabt und nachts viel zu wenig Sauerstoff erhalten hatte», erklärt Esther. Der Bescheid eines Lungenspezialists war schockierend. Noch nie hatte er eine Frau mit derart starker Apnoe erlebt. «Ich hatte bis zu 55 Atemaussetzer pro Stunde und diese dauerten manchmal fast eine Minute lang», weiss Esther. Die Sauerstoffsättigung lag bei 70 Prozent und auch das Herz war in Mitleidenschaft gezogen worden. Später wurden weitere gesundheitliche Probleme festgestellt. Durch Medikamente und eine Ernährungsumstellung konnte Esthers Zustand schliesslich stabilisiert werden. Langsam ging es aufwärts. «Übrigens», sagt Esther und schmunzelt: «Einer meiner Ärzte ist bis heute der Iraner, dem wir damals zu einem Job verholfen hatten.»

Neues lernen und entdecken

Seit 2018 spielt sich Esthers Leben vor allem zu Hause ab. Sie vergrösserte mit Begeisterung den Garten und probierte Neues aus. Unter anderem begann sie zu malen und konnte ihre Bilder bereits ausstellen. Irgendwann begann Esther auch, ihr Wissen mit anderen Menschen zu teilen, führte beispielsweise einen Kurs über das Konservieren von Lebensmitteln durch. Seit die beiden Töchter ausgezogen sind, leben Esther und Urs allein in ihrem grossen 9-Zimmer-Haus. Selbst als das Studio vermietet wurde, blieb noch viel Platz für ein Ehepaar. Während der Coronajahre lebte ein Flüchtling aus Afghanistan bei Köppels. Nun ist er ausgezogen und das Studio stand einige Monate lang leer. Gastgeber für Menschen aus aller Welt zu sein, das begeistert Esther noch immer sehr. Als ein Bekannter von Köppels nach Gast-gebern für geflüchtete Menschen aus der Ukraine suchte, war Esther sofort dabei. «Für Urs und mich war klar, dass wir Zimmer zur Verfügung stellen würden.» Dass Esther Jahre zuvor Bosnisch gelernt hatte, ist ihr jetzt von grossem Nutzen, denn Bosnisch und Ukrainisch sind verwandte Sprachen. «Und wenn wir uns zu wenig verstehen, hilft der Google-Translator», wirft Esther ein.

«Die Solidarität mit den Ukrainern kann so manche Corona-Wunde heilen.»

Nichtstun ist keine Option

Es dauerte nicht lang, bis Ukrainerinnen bei ihnen ankamen. Eine Mutter war mit ihrer sechsjährigen Tochter geflohen, während ihr Ehemann und der achtzehnjährige Sohn zurückbleiben mussten. «Die Angst dieser Frau um ihre Liebsten geht mir nah.» Eben-falls Zuflucht bei Köppels fand die Cousine der Ukrainerin. Sie steht in Kontakt mit ihrer Schwester, die mit mehreren Familienangehörigen an der ungarischen Grenze steckengeblieben ist. Esther ist sich bewusst, dass sie auf ihre Kräfte achten muss. Sie will jedoch unbedingt anpacken. Aus Vorsicht nichts zu tun, das ist für sie keine Option.

Hilfsgüter in Rekordzeit

«Die Leute kamen fast ohne Gepäck bei uns an. In einer Facebook-Gruppe postete ich deshalb eine Liste mit allem Benötigten», erzählt Esther. Die Liste umfasste Dinge wie Betten, Kleider, Schuhe, Velos und vieles mehr. «Nur gerade eine halbe Stunde später war alles Material zusammen – mehrheitlich von Menschen gespendet und persönlich vorbeigebracht, die ich nicht kannte.» Esther war überwältigt von der enormen Hilfsbereitschaft. Sie ist überzeugt, dass Schenkende und Helfende durch ihr Handeln selbst beschenkt werden. Und: «Ich bin mir sicher, dass die Solidarität mit den Ukrainern so manche Corona-Wunde heilen kann.» Trotz der grossen Unterstützung gab es viele Dinge zu organisieren. Esther ist dankbar, dass sie die Kraft dafür hatte. Zu sehen, wie irgendwelche Menschen mit den richtigen Dingen zur richtigen Zeit bereitstehen, lässt sie einmal mehr die Realität eines liebenden Gottes erkennen. Markus Richner-Mai «Wir erhielten beispielsweise genau das Bett, welches ich mir gewünscht hatte. Und bei einer Metzgerei dürfen wir gratis Fleisch holen. Die Situation war bislang keine grosse finanzielle Belastung für uns. Ich staune, wie Gott uns versorgt.»

Zur Person

Einer meiner Lieblingsplätze in St. Silvester:
Oben bei der Kirche hat man einen wunderbaren Ausblick.

Meine Lieblingsbeschäftigung an verregneten (Sonntag-)nachmittagen:
Ich male gern oder setze mich an die Nähmaschine.

Meine Lieblingsmusik:
Ruhige Lobpreis-Musik

Auf diese App möchte ich auf keinen Fall verzichten:
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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Hope-Zeitungen