«Dicksein – Das geht gar nicht»

Silvia Wyss
Silvia Wyss aus Bigenthal war als Kind grosser Belastung ausgesetzt. Sie kompensierte dies mit Essen – und leidet bis heute daran. Doch nun soll die Vergangenheit nicht länger ihre Gegenwart dominieren.

«Als ich neun Jahre alt war, wurde mein Vater wegen eines gutartigen Tumors am Hals operiert», erzählt Silvia Wyss. Dabei sei alles schief gegangen, was schief gehen konnte: «Er verbrachte die nächsten zwei Jahre im Spital und kam halbseitig gelähmt wieder nach Hause.» Auf diese traumatische Zeit der Ungewissheit reagierte sie, indem sie anfing, mehr als nötig zu essen. «Binge-Eating – man stopft alles in sich hinein, bis nichts mehr geht», erklärt sie. «Es ist ein Suchtverhalten, nur kann man die Suchtsubstanz nicht einfach weglassen.» Die Waage zeigte bald das Resultat an. «Turnstunden wurden zum Horror für mich. Wenn Gruppen gewählt wurden, blieb ich immer bis zuletzt stehen. Keiner wollte eine Dicke in der Mannschaft.» Noch heute spürt Silvia den Schmerz dieser Demütigung. «Sollte ich bei meinen Töchtern etwas in Richtung Mobbing feststellen, würde ich sofort eingreifen», stellt sie klar. Damals erkannte niemand ihre Not, sie erhielt keine Hilfe.

Roby, der Retter

Silvia fand selbst einen Weg, zur Ruhe zu kommen. Durch Mithilfe in einem Stall durfte sie anfangen zu reiten. «Wenn ich mit Roby zusammen war, ging es mir gut», erzählt die 45-Jährige. Der Freiberger Hengst spürte ihren Gemütszustand jeweils sofort und spiegelte ihn. «Wir konnten nicht zusammenarbeiten, wenn ich aufgewühlt war, er übernahm das umgehend.» Silvia musste runterfahren, sich ruhig und bestimmt verhalten. Dann stellte sich Harmonie zwischen Reiterin und Pferd ein, und sie verbrachten erfüllende Stunden miteinander. «Ich lernte von Roby viel über zwischenmenschliches Verhalten. Es tat meinem Selbstwertgefühl gut, dass er mich als Chefin akzeptierte.» Zuerst durchatmen, nicht überreagieren – das gelte auch für herausfordernde Situationen im Umgang zwischen Menschen. Bis heute reitet Silvia, geniesst es, zusammen mit ihrem Pferd durch die Natur zu streifen, die Schöpfung zu bewundern. «Dabei danke ich dem Schöpfer für all das Schöne, das er uns schenkt», hält die Emmentalerin fest.

Plötzlich war da mehr…

Ihren Mann Marc kennt Silvia schon seit der Kindheit. Die beiden Familien gehörten zur gleichen Freikirche. «Als ich 25, er 33 Jahre alt war, hatten wir unser erstes Date», schmunzelt sie und erzählt: «Es war etwas speziell – wir waren uns ja überhaupt nicht fremd.» Zwei Jahre später fand die Hochzeit statt und sie freuten sich auf eine eigene Familie. «Dass sich dieser Wunsch nicht schnell erfüllte, war hart», blickt sie zurück. Heute sind Marc und Silvia glückliche Eltern von zwei Mädchen. Sie teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit; sie arbeitet bei einer Bäckereimaschinenfirma im Export, er ist Elektriker. «Emilia und Mia geniessen es, wenn sie einen Tag in der Woche vom Grosi betreut werden», erklärt Silvia. Sie wusste, dass Marc wegen seiner Epilepsie nicht voll arbeiten darf, etwas mehr Erholung braucht. Aber ihre Arbeit macht ihr Spass und Papi-Zeit ist kostbar für die Mädchen. Mit ihren elf- und neunjährigen Töchtern hat sie am Altstadt Grand-Prix von Bern teilgenommen: «Auch wenn man es mir nicht ansieht – ich treibe gern Sport.»

Nochmals ein Anlauf

Die Familie besucht die Hope&Life Church in Hasle-Rüegsau. «Die ermutigenden Predigten tun mir richtig gut», betont Silvia. «Ich vermisse es, wenn wir an einem Sonntag nicht hingehen können.» Eine Aussage des Pastors Konrad Blaser hat sie sich zu Herzen genommen: «Meine Vergangenheit muss nicht meine Zukunft bestimmen!» Nach unzähligen Versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren, war sie entschlossen, ein Magen-Banding vornehmen zu lassen. Doch der Chefarzt des Inselspitals in Bern stellte klar: «Sie sind gesund, eine Operation ist nicht der richtige Weg.» Solche Eingriffe hätten manchmal gravierende neue Herausforderungen zur Folge und würden nicht immer das gewünschte Ergebnis bringen.

Aktuell befindet sich Silvia in einer Versuchsphase mit der «Abnehmspritze» Wegovy: «Dicksein geht gar nicht – aber sich eine Spritze dagegen verpassen zu lassen, auch nicht», so nimmt sie die Reaktionen ihrem Umfeld wahr. Das Medikament dämpft das Hungergefühl, aber es löst nicht alle Probleme.» Aus diesem Grund begann sie die Auswirkungen ihres Kindheitstraumas mit einer Psychologin zu reflektieren. In der Vorpubertät fehlte ihr der Vater. Dazu gesteht sie: «Ich weiss, dass Gott mich liebt, so wie ich bin, dass ich in seinen Augen einzigartig und wertvoll bin. Aber ich kann es nicht immer glauben.» Der Blick in den Spiegel zeigt ihr eine Frau, die sie nicht vorbehaltlos annehmen kann. «Daran möchte ich arbeiten», bestätigt Silvia. Auch zu akzeptieren, dass ihr Mann sie mit allen Rundungen liebt und ihre Freundinnen sie so mögen, wie sie ist, ohne ihr Übergewicht ständig zu registrieren, fällt ihr schwer.

Liebe dich selbst!

Als sie im bisherigen Stall nicht mehr reiten konnte, forderte sie die neue Pferdebesitzerin heraus: «Schau mich an, das sind die Tatsachen. Darf ich trotzdem eines deiner Pferde reiten?» Sie durfte – und darf noch immer. Manchmal gehen auch ihre Mädchen mit, dann reiten sie zu dritt aus. Heute lebt Silvia nach der Devise: «Für die positiven Gedanken bist du selbst verantwortlich, die negativen kommen von allein.»

Silvia hält fest: «Grundsätzlich geht es mir gut, ich sehe das Positive an mir und feiere auch kleine Erfolge.» Sie freut sich, wenn sie mit der Nähmaschine wieder ein hübsches Kleidungsstück erschaffen hat. Und sie will freundlich mit sich selbst umgehen, nicht nur mit der Familie und den Freunden. Durch Ernährungsberatung überprüft sie ihr Essverhalten und übt alternative Verhaltensweisen ein. «Ich will mich so sehen, wie Gott mich sieht. Für ihn bin ich kein hoffnungsloser Fall, er hat mich nicht aufgegeben.» In diesem Wissen schaut sie zuversichtlich nach vorn, gibt die Hoffnung nicht auf.

Zur Person

So entspanne ich nach einem anstrengenden Tag:
Ein warmes Schaumbad – geht auch im Sommer

Dieses Buch liegt auf meinem Nachttisch:
Das Schwärmen von tausend Bienen (Diana Gabaldon), Blog Book (Konrad Blaser), Ein Gebet für jeden Tag (Deborah Rosenkranz)

Meine Lieblingsbeschäftigung sonntags bei Regen:
Ich mache mir immer Notizen während der Celebration (Gottesdienst) und schreibe diese dann an einem Regensonntag ins Reine.

Autor: Mirjam Fisch
Quelle: Hope Regiozeitung