Die selbstwachsende Saat
Ich habe, wie so viele andere auch, das Gärtnern für mich entdeckt. Einen Garten habe ich in meiner Dachgeschosswohnung zwar nicht, aber ein paar Pflanzen schmücken mittlerweile schon meine Fensterbänke. Eine meiner Pflanzen ist besonders fleissig und treibt regelmässig Ableger aus. So nehme ich sie immer wieder zur Hand, entferne die Erde und trenne in höchster Vorsicht die Ableger ab. Diese kommen einige Tage in eine Tasse mit Wasser, damit sie noch mehr Wurzeln ziehen können. Dann ist es so weit: Die Ableger bekommen ihren eigenen Anzuchttopf und verschwinden in der Erde.
Nun ist meine Arbeit getan. Doch für mich fängt jetzt der spannende Teil an: Jeden Morgen laufe ich zu den Anzuchttöpfen und schaue, ob sich schon etwas entwickelt hat. Ich fühle mich wie ein Kind, das in der Adventszeit morgens als Erstes zu seinem Adventskalender rennt und schaut, was sich heute hinter der Tür verbirgt. Der einzige Unterschied ist, dass ich meistens das Gleiche sehe: Erde. Dunkelbraune Erde mit einer kleinen Kuhle in der Mitte – mehr nicht. Dieses Bild verändert sich lange nicht.
Was lange währt
Dieses Gefühl des Wartens und Beobachtens kennt der Sämann aus dem Gleichnis aus Markus Kapitel 4, Verse 26-29 nur zu gut. Jesus beschreibt eine ganz ähnliche Begebenheit: «Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er wessß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.»
Hier handelt es sich nicht um eine Fensterbank, sondern um einen grossen Acker. Auf diesen hat ein Mann einen Samen geworfen. Dieser Vorgang der Aussaat ist bereits abgeschlossen, er wird lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt. Nun beginnt die eigentlich interessante Zeit – das Warten beziehungsweise das Wachstum. Die Zeitform ändert sich und wir befinden uns durch die Gegenwartsform nun mitten in dem Geschehen. Der Sämann geht nun tagein, tagaus zu seinem Acker und schaut, ob sich etwas getan hat. Er lebt in einem Zyklus von Schlafen und Aufstehen. Das deutet auf den Nacht-Tag-Wechsel hin. So wird ganz plastisch der Lauf der Zeit zum Ausdruck gebracht. Die Zeit vergeht ganz von allein und in einem regelmässigen Rhythmus. Für den Sämann ist das eine Zeit des Wartens.
Und für die Saat? Ist es die Zeit des Wachstums. Sie spriesst und wächst hoch und macht die kommende Zeit sichtbar: Bereits jetzt beginnt sie, zu der Pflanze zu werden, die sie einmal sein soll. Für den Sämann ist der Vorgang unbegreiflich, wunderbar – er kann ihn sich nicht erklären. Und es erinnert mich an diesen einen Morgen, an dem ich wieder zu meinen Anzuchttöpfchen laufe und plötzlich das erste winzig kleine grüne Hälmchen inmitten der dunklen Erde sehe. Da entfährt einem ganz automatisch ein «Wow».
Wundersames Wachstum
Die Erde bringt von selbst Frucht. Das Wachstum der Saat ist ein Wunder – Gottes Wunder. Dies macht Jesus in seinem Gleichnis deutlich. «Von selbst bringt die Erde Frucht…» (LUT): Vers 28 fängt im Griechischen mit einem Wort an, das man wörtlich mit «ohne sichtbare Ursache» übersetzen müsste. Manche Übersetzer verwenden «von selber». Aufgrund von Gottes wunderbarem Wirken trägt die Erde Frucht.
Dieses Wunder baut sich Stück für Stück auf. Es ist nicht so, dass ich an dem einen Abend zu Bett gehe und noch nichts Grünes in der Erde sehen kann und am nächsten Morgen, wenn ich aufstehe, eine ausgewachsene Pflanze in voller Blüte meine Fensterbank schmückt. So beschreibt es auch das Gleichnis: Es beginnt mit einem kleinen, zarten grünen Halm, der die Erde durchbricht. Dann folgen die Ähren und den krönenden Abschluss bildet das ausgewachsene Korn in der Ähre. Wachstum ist ein Weg. Wachstum braucht Zeit. Wachstum ist eine Entwicklung.
Gott hat alles in seiner Hand
Jesus verwendet das Bild der selbstwachsenden Saat als einen Vergleich, mit dem jeder seiner Zuhörer etwas anfangen konnte und was er in seiner eigenen Wirklichkeit erlebte. Worum es Jesus eigentlich geht, sagt er sogar schon ganz am Anfang seiner Erzählung: Es geht um die Herrschaft Gottes.
«Wenn aber die Frucht es zulässt…» (Vers 29 | ELB): Wenn die Frucht ihre Reife erreicht hat, dann gibt sie die «Erlaubnis» zur Ernte. Diese Formulierung hier ist besonders. In der Theologie spricht man vom «eschatologischen Mass». Das meint die von Gott gesetzte Fülle der Zeit. So wie die Pflanze ihre Entwicklung mit der Reife der Frucht abschliesst und weiss, wann sie fertig ist, so weiss Gott, wann das Ende reif ist und die Ernte beginnen kann. Wir Menschen sind wie der Sämann, der nur immer wieder zum Feld geht und schaut, wann es so weit ist. Wir können und müssen uns demnach nicht darum kümmern, wann die Zeit gekommen ist. Das weiss alleine Gott. Gott kümmert sich um das Heranwachsen und bestimmt den Zeitpunkt der Ernte. Dies wird unterstrichen, indem das Gleichnis mit einem Zitat aus Joel Kapitel 4, Vers 13 endet, in dem auch von dem vollen Mass – dem Gericht Gottes angesichts menschlicher Bosheit – die Rede ist.
Geduld heisst Vertrauen
Vom Ende des Gleichnisses her gedacht, geht es folglich um die Frage nach der Zeit der Vollendung der Gottesherrschaft. Die Antwort, die das Gleichnis gibt, lautet: Gott ist der, der den Samen wunderbar wachsen und bis zur Vollendung reifen lässt. Der Sämann (die Menschen) dürfen immer wieder hingehen und zuschauen, wie die Saat aufgeht und wächst. Wenn die Zeit gekommen ist, dann kann der Sämann die Sichel zur Ernte schwingen. Diesen Zeitpunkt bestimmt und weiss alleine Gott. Dann ist die Königsherrschaft Gottes vollendet und bündelt sich in seinem Gericht.
Das Gleichnis der selbstwachsenden Saat soll Zuversicht und Entlastung vermitteln. Wir können die Vollendung der Gottesherrschaft nicht begreifen, berechnen oder erzwingen. So wie der Sämann mit Geduld und Zuversicht jeden Tag nach seiner Saat schaut, so dürfen wir im Glauben und in Geduld unser Vertrauen jeden Tag auf Gott setzen. Gott garantiert die Vollendung seiner Herrschaft, so wie die Reife der Frucht garantiert ist. Wir sind aufgerufen, ihm zu glauben und zu vertrauen.
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