Zwischen Verstand und Bauchgefühl
Als meine Patentochter knapp drei Jahre alt war, besuchte ich mit ihr zum ersten Mal den Zoo. Im Affenhaus stand sie fasziniert an der Scheibe und schaute den grossen Affen beim Spielen zu. Plötzlich sprang einer von ihnen von der Seite direkt auf das kleine Mädchen zu, presste seine grossen Hände an die Scheibe und starrte dem Mädchen ins Gesicht. Sie erschrak fürchterlich, drehte sich um, klammerte sich mit lautem Schreien an meine Beine, ihren Kopf fest zwischen meine Knie gedrückt.
Ich drehte sie daraufhin herum, schleppte sie zur Scheibe zurück und erklärte ihr sachlich, dass sie keine Angst haben müsse, hier sei doch eine Scheibe und sie solle sich nicht so anstellen, es seien doch nur ungefährliche Affen in einem Gehege.
Nein, das war nicht meine Reaktion. Wie lieblos wäre das?
Gnädig mit uns selbst
Ich habe die Kleine erst mal auf meinen Arm genommen, sie festgehalten und ihr Sicherheit gegeben. Ich habe ihr sanfte Worte der Beruhigung zugesprochen und ihre Tränchen getrocknet. Irgendwann habe ich sie gefragt, ob wir gemeinsam schauen wollen, was die Affen gerade so machen. Zögerlich hat sie ihren Griff um mich gelockert, den Kopf neugierig zu den Affen gedreht, und wir sind langsam und vorsichtig wieder zur Scheibe gegangen. Da haben wir dann gemeinsam gefühlt, wie dick und fest die Scheibe zwischen uns und den Affen ist und haben beide gemerkt: Alles gut, wir sind sicher! Und wir können ganz entspannt den Affen beim Spielen zusehen!
Wie oft ist unsere Reaktion bei Angst aber genau die erste? Wie oft zerren wir uns mit Gewalt ins Angesicht des Schreckens, hauen Floskeln raus wie «Stell dich nicht so an!» oder «Sei ein Mann!»? Wie oft verbieten, verneinen oder ignorieren wir unsere Emotionen, weil wir schliesslich erwachsen sind? Oder weil etwas unsinnig, unnötig, unmöglich scheint? Ziemlich viel «un» in einem Satz – ja, es ist ein Un-Ding, dass wir so reagieren. Und es entspricht nicht der Art, wie wir vom Schöpfer geschaffen sind.
Zwischen Kopf und Bauch
Denn Gott hat uns mit zwei Systemen ausgestattet, die unser Wohlbefinden und unser Überleben sichern – körperlich, seelisch und geistig. Diese zwei Systeme sind die RATIO und die EMOTIO.
Die RATIO ist die Summe aus unserem Denken, unserem Verstand. Die EMOTIO ist die Summe unserer Gefühle und Empfindungen. Weil sie sich vor allem körperlich bemerkbar macht, nennen wir sie umgangssprachlich Bauchgefühl. Nun sind wir in unseren Breitengraden oft zur Vernunft erzogen. Wir meinen, Dinge sachlich bewerten zu müssen und bloss nichts aus dem Bauch heraus zu entscheiden. Die meisten Menschen würden sich genau so beschreiben. Manche Menschen sagen von sich, dass sie eher Bauchmenschen sind und gerne intuitiv handeln und entscheiden.
Tatsächlich ist es so: Wir sind alle beides – Kopf- und Bauch-Menschen, weil Gott uns so gemacht hat. Unter Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen gilt als bewiesen: Der Verstand ist wichtig. Er hilft uns, die Dinge sachlich zu durchdenken, Klarheit zu finden, weil er Argumente liefert. Und wir wissen auch: Unsere Emotionswelt spielt genau dabei eine sehr grosse Rolle. Sie ist nicht wichtiger, aber mächtiger als der Verstand, weil die EMOTIO sich durch Körperreaktionen äussert und uns im Zweifelsfall komplett lahmlegen kann. Dann reagieren wir plötzlich wie meine knapp dreijährige Patentochter und rennen laut schreiend weg. Wobei das im Erwachsenenverhalten eher so ausschaut: Wir kehren Konflikte unter den Teppich oder haben ungebremste Gefühlsausbrüche; wir haben zu hohen Blutdruck, Magenschmerzen oder Verspannungen; wir ziehen uns schweigend in uns selbst zurück oder giften andere an. Diese Liste könnte ich endlos fortführen. Welche Gefühlsreaktionen kennst du von dir, und wie merkst du sie körperlich?
Aber merke: Jedes Gefühl, das wir Menschen haben, ist kein nerviges Ding, das immer zur Unzeit kommt – sondern ist ein kompetenter Berater, der mich auf bestimmte Bedürfnisse hinweisen will.
Menschen haben Angst
Wenn es um unsere Gefühle und Bedürfnisse geht, sind wir oft ziemlich erbarmungslos. Das liegt zum einen an René Descartes aus dem 17. Jahrhundert, der mit seinem «Ich denke, also bin ich» den Grundstein gelegt hat für die Zeit der Aufklärung. Also diese Jahrhunderte der Sachlichkeit, in denen die Vernunft und das wundervolle Denkvermögen der Menschen zulasten ihrer Gefühlswelt überbetont wurden. Und dann sind da wir Christen, die vielerorts gelernt haben, dass Seele und Geist als die heilige Verbindung zu Gott gut sind, der Körper aber der
Hort der Sünde und damit per se schlecht. Diese Trennung des Körpers von Seele und Geist tat uns nie gut. Und so hängen wir bis heute in weiten Teilen der Gesellschaft und Gemeinden noch immer in Descartes' Prägung und dieser theologischen Irrlehre fest.
Das geht auf Kosten unserer Gesundheit – seelisch, geistlich und körperlich. Wir scheinen nicht so recht klarzukommen mit diesen beiden Systemen, mit denen Gott uns so wundervoll ausgestattet hat. Und dann ist da auch ein Widerspruch, den uns die Bibel und Jesus selbst zumuten. Auf der einen Seite die klare Botschaft «Fürchtet euch nicht», die unzählige Male in der Bibel steht. Auf der anderen Seite dieses «In der Welt habt ihr Angst ...» von Jesus selbst.
Fazit: Wir brauchen als gläubige Menschen, die mit dem Herrn der Welt verbunden sind, keine Angst haben. Gleichzeitig lesen wir von Jesus selbst «In der Welt habt ihr Angst...» (Johannes Kapitel 16, Vers 33) und kennen viele Geschichten von Promis aus der Bibel, die sehr wohl Angst zeigten: angefangen bei Adam und Eva (1. Mose Kapitel 3, Verse 8-10), Mose (2. Mose Kapitel 2, Verse 11-15), Jona (Jona Kapitel 1-4) bis hin zu Jesus selbst (Markus Kapitel 14, Verse 32-36) und seinen Jüngern (Johannes Kapitel 6, Verse 16-21). Wir lernen: Menschen haben Angst!
Dieser scheinbare Widerspruch von «Habt keine Angst» und «Ihr habt Angst» zeigt mir, wie wir geschaffen sind und wie wir mit uns und anderen umgehen sollen. Jesus kannte unsere Systeme – er war einer von uns. Mit «Ihr habt Angst» sagt er klar: «Ja, wir haben in dieser Welt Angst, denn es geht ums Überleben – und die EMOTIO ist unser Bodyguard!» Mit «Fürchtet euch nicht!» betont Jesus, wie wichtig die RATIO ist, und dass wir uns mit all den guten Argumenten füttern sollten.
Wie geht es dir wirklich?
Es ist an der Zeit, dass wir diese zwei himmlischen Systeme unseres Menschseins wiederentdecken. Dass wir RATIO und EMOTIO versöhnen und lernen, in Einklang zu bringen. Denn nur dann geht es uns gut an Körper, Seele und Geist. Das heisst, wir müssen wieder wahrnehmen lernen: wie es uns wirklich geht, was wir empfinden und warum; was die Auslöser sind, die uns vielleicht sogar zu bestimmten Handlungen triggern; und was all das uns sagen will im Blick auf das, was wir brauchen. Wir müssen wertschätzen lernen: uns selbst mit allem, was wir fühlen, brauchen und wie wir ticken – Angst ist ja nur ein Beispiel.
Das Spannende hier ist, dass wir Menschen unterschiedlich ausgestattet und geprägt sind. Hier komme ich mit Standard-Antworten und -Strategien selten weiter. Ich muss mich selbst auf die Reise begeben und lernen wollen. Wenn ich das mache, wenn ich meine RATIO und EMOTIO besser wahrnehme und wertschätze und so richtig feiern kann für ihre gute Arbeit für mich, und wenn ich gelernt habe, dass ich die zwei auch umerziehen kann, weil ich als Mensch immer Neues und Anderes lernen kann – dann habe ich eine Chance, mein Verhalten zu ändern. Dann haue ich keine leeren Floskeln mehr raus, die zwar weise, oft auch fromm klingen, aber wenig helfen. Dann übe ich keine Gewalt mehr aus und zwinge mich selbst oder andere zu Dingen, die nicht guttun. Dann kann das biblische «Fürchte dich nicht!» wohltuende Resonanz erzeugen, weil es keine leere Floskel mehr ist, sondern auf gut vorbereiteten Boden in mir fällt. Auf solchen, auf dem sachliche Argumente aufblühen neben farbenfroher Gefühlsklarheit.
Eine grosse Konsultation
Jetzt ist die Frage, was die Affen in deinem Leben sind, die dich anspringen und fürchterlich erschrecken. Manchmal sind das Situationen im Job, mit den Kindern, mit Partner oder Partnerin. Es kann Ärger beim Einkaufen sein, eine Diagnose beim Arzt oder ein Schreiben vom Finanzamt. Was dich erschreckt und wie stark, hängt nicht vom Auslöser ab, sondern von deiner Bewertung. Und die ist immer erst mal gut – Bewertungen dürfen wir nicht bewerten. Unser Job ist, sie wahrzunehmen. Und dann EMOTIO und RATIO in aller Ruhe zu konsultieren, um zu checken: Ist diese erste Bewertung (mir und meinem Umfeld) dienlich – oder schadet sie? Will ich sie eventuell anpassen?
Dazu musst du deinen Gefühlen auf den Grund gehen, also der EMOTIO Zeit zum Arbeiten geben: Was genau empfinde ich hier? Neben der Angst vielleicht Unsicherheit, Trauer, Sorge? Die Psalmen bieten hier tolle Beispiele, wie all das zu unserem Leben gehört. Und dann frage deine RATIO nach ihren Argumenten: Wie schlimm ist es wirklich? Was genau sind die Konsequenzen? Woher kommt das eigentlich alles? Auch dafür brauchst du Zeit. Je nach Intensität der Konsequenzen und Tiefe der Beziehung, die es betrifft, länger oder auch kürzer. Und wenn du jeden Psalm zu Ende liest, wirst du merken: Die RATIO findet hier auch viel Futter!
Ein heiliger Prozess
Wenn du gut dir selbst und damit auch anderen gegenüber liebevoll investierst, hast du eine Chance, anders zu reagieren. Du rennst dann nicht mehr schreiend weg und klammerst dich an Knie, sondern zuckst kurz, bringst dich in Sicherheit und dröselst in Ruhe die Sach- und Emotionslage auf, bis alle Knoten gelöst sind.
Zu wissen, dass dies die Art und Weise ist, wie wir geschaffen sind – weil EMOTIO und RATIO die Systeme sind, mit denen der Schöpfer uns ausgestattet hat –, macht dies zu einem heiligen Prozess. Und all die Wahrheiten und Weisheiten der Bibel, die Geschichten der vielen Angsthasen im Wort Gottes, zusammen mit den vielen Mut-Ausbrüchen, von denen ich auch lese, bestätigen mich: Ich bin hier definitiv auf dem richtigen Weg! Angst haben und keine Angst haben gehören zusammen. Denn Angst haben ist eine Schutzeinstellung, die Gott uns gegeben hat – fürs Leben. Gleichzeitig weiss ich als glaubende und vertrauende Frau, dass am Ende alles gut wird und meine Angst damit in ein schönes, richtungsweisendes Licht mit Ewigkeitsperspektive getaucht wird.
PS: Der 13. Psalm ist mir so wertvoll geworden. Fünf Verse pure EMOTIO – und dann der letzte, 6. Vers: Die RATIO schaltet sich ein, erinnert an Rettung aus der Vergangenheit und beruhigt so die EMOTIO.
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