Der Verlust von Jonis Lachen

Susanne Kellner mit ihrem Sohn Joni
Susanne Kellner begleitet ihren Sohn seit zwei Jahrzehnten. Aus dem fröhlichen Kind wurde ein junger Mann auf der Intensivpflegestation. Die Aufzeichnung eines langsamen Verlusts.

«Wenn du lachst, machst du mein Leben heller.
Wenn du lachst, weiss ich, wo ich hingehör’.
Ich schau’ dich an und der Rest der Welt wird stiller.
Wenn du lachst, wenn du lachst.»

Unzählige Male habe ich dieses kitschig anmutende Lied des Schlagerstars Helene Fischer für meinen Sohn Jonathan gesungen. Wie erklärt es sich, dass ausgerechnet ich, die belesene, Poesie begeisterte Germanistin mich derart stilistisch verirre? Die Antwort ist Liebe. Bei diesem Songtext handelt es sich um mehr als ein Lieblingslied meines Kindes. Für mich als Mutter eines palliativ Erkrankten ist sein Lachen seine Botschaft an die Welt. Wenn ich den Song heute höre, könnte ich nur noch weinen.

Denn dieses unbefangene Lachen, das zeitlebens sowohl Jonathans Markenzeichen als auch mein Herzenselixier war, werde ich auf dieser Erde nie wieder hören. Eine neurodegenerative Erkrankung hat aus dem humorvollen, fröhlichen Kind einen jungen Mann gemacht, der auf einer Intensivpflegestation professionell gepflegt werden muss und mittlerweile zu fast keiner Reaktion mehr fähig ist.

Dabei hatte dieses gewinnende Lachen mit der unschlagbar guten Laune über viele Jahre Menschenherzen im Sturm erobert: von den Ärzten, auf der Kinderkrebsstation oder im Kinderhospiz und nicht weniger in Gottesdiensten, auf Festen oder bei Ausflügen.

Das Lachen im Schwimmbad

Sommer 2023. Wir verbringen einen Nachmittag in einem Naturschwimmbad im herrlichen Markgräflerland. Einerseits ist es wie immer anstrengend, Jonathan mit Rollstuhl, Sondennahrung, Notfallmedikamenten und unter den neugierigen Blicken der anderen Besucher zu versorgen. Andererseits wollen wir ihm diese Form der Teilhabe ermöglichen, heraus aus der Pflegeeinrichtung, mitten in die Natur und in eine Normalität von Familienleben, um die wir in der Vergangenheit mehrfach kämpfen mussten.

Ehrlich gesagt war ich etwas enttäuscht, weil sich der damals pubertierende Joni die ganze Zeit über so cool wie nur möglich verhielt. Während ich Sonne tankte und versuchte, die Auszeit zu geniessen, verzog er keine Miene und schien vollkommen in sich selbst versunken zu sein. In mir wurde ein bekanntes Dilemma laut. Wir sehen uns gezwungen, das Fortschreiten der Erkrankung zu akzeptieren und zwar – wie Psychologen es gern formulieren – «bestenfalls radikal».

Aber das Mutterherz hört nicht auf, mit dem Geliebten in emotionaler Verbindung stehen zu wollen. Es harrt schweigend sowie unweigerlich auf eine positive Reaktion. Wie aus dem Nichts reisst mich ein Didgeridoo-Spieler aus der dunklen Dunstwolke meiner Zerrissenheit. Hinter dem Eingangstor am Kiosk bei Ali fängt er an, sein Instrument zu spielen, allerdings nicht sonderlich überzeugend.

Eine ansteckende Lachsalve

Inmitten dieser Unsicherheit, was man um Himmels willen mit einer solchen Darbietung anfangen soll, erschallt Jonathans Lachen. Es ist eine ganze Lachsalve, die sich auf alle Anwesenden ergiesst, die Menge ergreift und in einem einzigartigen, unwiederbringlichen Strahlen alles andere übertönt. Einen Augenblick herrscht gespannte Stille. Schliesslich können die Menschen nicht anders – sie lächeln, freuen sich oder stimmen in universelles Lachen ein. Ali holt sofort eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und will einen ausgeben. So gerne ich in dieser Erinnerung schwelge – es ist eines der letzten Male, dass ich das Lachen meines Sohnes auf diese Weise erleben durfte.

Viele Monate später besucht mein Mann eine ältere, kranke Frau im Dorf. Schon bald erkundigt sie sich nach Joni und nimmt aufrichtig Anteil an unserem besonderen Schicksal. Sie erzählt, dass es für sie unvergesslich sei, wie der schwerbehinderte Junge im Naturschwimmbad an diesem Sommertag gelacht hat. Sie sei zufällig dabei gewesen. Es habe sie zutiefst berührt, was für eine unbändige Freude in diesem Moment aufgekommen sei. Jonathans Lachen hat nicht nur mein Leben heller gemacht, sondern auch das anderer Menschen.

Abschied in Etappen

Der Verlust dieses Lachens lässt sich nicht in Worte fassen. Wenn man in Etappen Abschied nehmen muss, stirbt man tausend Tode. Bereits als Joni seine Sprachfähigkeit verlor, dachte ich, das überlebe ich nicht. Doch der Verlust dieses Lachens gleicht einem vollständigen Entgleiten, ungeachtet der Tatsache, dass ich Jonathan regelmässig besuche und betend neben ihm in seinem Pflegebett liege.

«Die mit Tränen säen, werden im Jubel ernten», lesen wir in Psalm 126, einem meiner Favoriten. Als Christen haben wir Hoffnung auf ewige Herrlichkeit. Aus Gnade kann ich bezeugen, dass ich die biblischen Verheissungen glaube. Sie sind der festeste Bestandteil meiner tiefsten Überzeugungen. Es wäre allerdings fatal, nicht zugeben zu dürfen, wie unsagbar schmerzlich ich dieses wunderbare, ansteckende Lachen vermisse.

Ja, Gott hat mich liebevoll wahrgenommen und berührt. Er hat mir in einer intensiven Gebetszeit versprochen, dass er mir anstelle meines Trauergewands die Kleider seiner ewigen, unwandelbaren Freude anziehen wird und dass diese Freude niemand mehr von mir nehmen kann. Er hat mir versichert, dass er diese Gabe der Fröhlichkeit, über die mein Jonathan in unbegrenztem Mass zu verfügen schien, auch in mich legen wird und dass das sehr viel damit zu tun hat, das Kind noch immer liebevoll zu begleiten. Doch diese persönliche Zusage Gottes ist ein vor mir liegender, oft einsamer Weg.

Ich muss meine verlustverwundete Seele nicht in eine Freude hineinvergewaltigen, die ich weder durch bestimmte (Gebets-)Methoden herbeiführen noch winterfest lagern kann. In einer Welt, die ständig auf Optimierung und Wohlbefinden ausgerichtet ist, läuft man als Trauernde Gefahr, die eigenen Begrenzungen und die absolute Angewiesenheit auf Gottes Gnade zu vergessen.

Unbewusst habe ich oft einen Punkt gesucht, ab dem die Trauer zur Freude wird, ab dem die schmerzhafte Dauersituation in Dankbarkeit kippt, ab dem der Verlust Gewinne generiert. Doch Gott legt den Schalter nicht um, weil es diesen Schalter nicht gibt. Christsein bedeutet für mich nicht mehr, negative Gefühle möglichst effektiv «wegzubeten», um zum Eigentlichen, dem Anteil an Gottes Reichtum, durchzudringen. Meine Zeit mit Gott ist kein Instrument, mithilfe dessen ich meinen Verlust zu kompensieren oder in eine neue Gestalt zu verwandeln suche. Es gilt auch nicht, eine Etappe erfolgreich abzuhaken.

Jesus Christus nachzufolgen, heisst, mich in allen inneren Prozessen – seien sie noch so langwierig oder schmerzhaft – Gottes grenzenloser Liebe und seinem Mitgefühl hinzuhalten.

Das Geheimnis von Endlichkeit und Ewigkeit

«Ich schau’ dich an und der Rest der Welt wird stiller. Wenn du lachst, wenn du lachst.» Mein Blick auf den Körper meines kranken Kindes, dessen Seele vielleicht bereits im Himmel jubelt, entfacht jedes Mal heftige Traurigkeit in mir. Aber der Blick auf Jesus in seiner Liebe und Schönheit birgt die Gnade in sich, dass ich meinen emotionalen Abgründen zum Trotz mit dem Himmlischen verbunden bleibe.

Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit Jesus in Verbindung zu bleiben – du in mir, ich in dir. Da ist keine Garantie für eine sofortige Stillung von Verluststürmen, kein Switchen aus einer irdischen Wirklichkeit in eine erhoffte verheissene, kein nachhaltiger Durchbruch aus der Schwerkraft in die Leichtigkeit. Doch täglich setze ich mit meinem einfachen Gebet treu meinen Anker in das Geheimnis von Verlust und Vertrauen, Endlichkeit und Ewigkeit. Dann warte ich und lausche und schaue ihn an.

Jonathan Kellner wurde am 1. August 2004 als gesunder Junge geboren. Bereits nach den ersten Lebensmonaten zeigten sich Entwicklungsverzögerungen. Nach einem Diagnose-Marathon und dem knappen Überleben eines bösartigen Tumors wurde 2012 eine neurodegenerative Erkrankung diagnostiziert, die sich in kein gängiges Raster kategorisieren lässt. Seine Pflege erfolgte zunächst zu Hause, ab 2015 in unterschiedlichen Einrichtungen. Heute lebt er in einer Intensivpflegestation in der Nähe von Offenburg.

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Autor: Susanne Keller
Quelle: Magazin Aufatmen 02/2025, SCM Bundes-Verlag

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