Montag, 6. Mai 2024

«Die Kirche wird es immer geben»

Daniel Hintermann
Seit 26 Jahren ist Daniel Hintermann reformierter Pfarrer und teilt als solcher seinen Glauben und auch seine persönlichen Fragen. Von der Zukunft der Kirche ist er überzeugt – trotz Austritten und schwindender gesellschaftlicher Relevanz.

Daniel Hintermann (*1964) verbachte eine glückliche Kindheit in Beinwil am See (Hallwilersee). Mit dem Konfirmandenunterricht konnte er nicht viel anfangen. Sein Interesse für den Glauben wurde aber wenig später, in der Jugendgruppe des CEVI, geweckt.

Pfarrer zu werden war nicht sein Ziel, aber…

«Mit siebzehn durfte ich zum ersten Mal, zusammen mit einem Mädchen, einen Abend in der Jugendgruppe gestalten. Diese Möglichkeit der Beteiligung war für mein Leben und meinen Werdegang entscheidend.» Das brachte etwas in ihm in Bewegung und auch wenn Hintermann (noch) keine Absicht hatte, Pfarrer zu werden, interessierte ihn die Bibel und er liebäugelte schon früh mit dem Besuch einer Bibelschule. Die Überzeugung von der Wichtigkeit, jungen Menschen Aufgabe(n) und Verantwortung zu übertragen, hat sich seither gestärkt. Nach der kaufmännischen Berufslehre begann er sich nach einer Weiterentwicklung umzusehen und prüfte verschiedene Möglichkeiten. Letztlich holte er in der KTS (Kirchlich-theologische Schule) Bern die Matur nach und begann mit 24 Jahren sein Theologiestudium an der Uni.

VBG, Friedensbewegung und die Frau fürs Leben

Auf der Suche nach einem günstigen Zimmer stiess Daniel Hintermann auf eine Wohngemeinschaft der Vereinigten Bibelgruppen (VBG). «Während des Studiums haben mich die VBG mindestens ebenso geprägt, wie das Studium selbst.» Aber nicht nur das geistliche Leben der VBG stellte sich in Hintermanns Leben als grosses Geschenk heraus, in der WG lernte er nämlich auch die Frau kennen, mit welcher er heute glücklich verheiratet ist. «Während des Studiums heirateten wir und bekamen unser erstes Kind.»

Trotz seiner pietistischen Prägung betrachtete er sich nie als Evangelikalen. «Die reformierte Kirche ist mein Zuhause und die Theologie der Reformatoren mein Ausgangspunkt, aber ich habe auch ein grosses Anliegen für die Evangelische Allianz und die Ökumene.» Geprägt wurde Hintermann auch von der Friedensbewegung. «Schon als Jugendlicher, bevor ich bewusst Christ geworden bin, war ich mit der Friedensbewegung verbunden.» Als Hintermann begann, die Bibel zu lesen, wurde seine Überzeugung bestätigt, dass mit Waffengewalt keine Konflikte gelöst werden können. So war die Wehrdienstverweigerung – notabene nach Rekrutenschule und drei militärischen Wiederholungskursen – ein naheliegender Schritt.

1991, im Jahr, als der Zivildienst endlich eingeführt wurde, verbrachte Hintermann «als privilegierter Dienstverweigerer mit schwerer Gewissensnot» zwei Monate in Halbgefangenschaft im Gefängnis. Seine Ansichten zur Friedenspolitik sind inzwischen sicher differenzierter geworden. «Ich bezeichne mich aber heute noch als Pazifisten.»

Familiäre Erschütterung

Vor 21 Jahren wurde das Leben von Daniel Hintermann und seiner Familie erschüttert. Bei seiner Frau Seraina wurde MS (Multiple Sklerose) diagnostiziert. Die Krankheit schritt schnell voran, seit fünfzehn Jahren ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. «Sie hat eine schwere Form von MS, wodurch ich stark in der Betreuung gefordert bin.» Deshalb reduzierte er das Arbeitspensum als Pfarrer von 80 auf 65 Prozent. Dank Unterstützung durch mehrere IV-Assistentinnen kann seine Frau daheim leben.

Ihre Krankheit hat in vielerlei Hinsicht auch seine Glaubensansichten geprägt und verändert, was auch seine Arbeit als Pfarrer beeinflusst hat. «Anfangs haben wir natürlich viel um Heilung gebetet und für uns beten lassen. Wir wussten und wissen, dass Gott Wunder tun kann. Dabei haben wir jedoch eine mehrfache Enttäuschung erlebt: zum einen, dass meine Frau nicht geheilt wurde und es im Gegenteil rasch schlechter wurde. Ausserdem wurden wir ‘Opfer’ von gutmeinenden Christinnen und Christen, die meinten, durch ihr Gebet mit uns ihr persönliches Wunder erleben zu dürfen. Als dies nicht eintrat, war natürlich unser Glaube oder irgendeine Sünde schuld. Die hier erfahrene Gesetzlichkeit, biblisches Halbwissen und schlechte Theologie haben uns ernüchtert und abgestossen. Wir mussten einen eigenen Weg suchen.»

Nach vielen inneren Kämpfen und vielen Ups und Downs mussten Hintermanns akzeptieren, dass Gott Seraina Hintermann offenbar nicht heilen will. In diesem Ringen waren Klagepsalmen und Vorbilder von Menschen, die ebenfalls schwere Wege geführt wurden, hilfreich. Auch die Logotherapie nach Viktor Frankl war für sie, die viele Jahre als Psychologin gearbeitet hat, eine wichtige Inspiration und Hilfe. «Wesentlich für uns war und ist es, in der Gemeinschaft unserer Kirchgemeinde begleitet und mitgetragen zu werden.»

Ein authentischer Pfarrer

«Meine persönlichen Fragen sind heute oft Türöffner zu anderen Menschen», stellt Hintermann fest. Wenn er beispielsweise gefragt wird, wie er mit der Krankheitssituation seiner Frau umgeht, können sich gute Gespräche ergeben. «Ich ringe oft um die richtigen Worte.» Früher habe er schnell mit Antworten aufgewartet, heute ist er zurückhaltender geworden, gerade weil er aus 25 Jahren Pfarramtserfahrung und erworbenem Wissen weiss, dass jede Lebenssituation anders ist und Einfühlungsvermögen verlangt. Vertrauen wächst wohl gerade da, wo man von sich selbst auch etwas zeigt, authentisch ist. «Ich will mich nicht anbiedern, aber dem Gegenüber doch soweit möglich entgegenkommen. Ich vertrete die biblische Botschaft und ihre Werte, versuche sie aber niemandem überzustülpen, sondern sie meinen Mitmenschen ‘wie einen warmen Mantel hinzuhalten’, in den man gerne hineinschlüpft.» Klarheit und Barmherzigkeit widersprechen sich nicht, ist Hintermann überzeugt.

Lebendigkeit trotz Kirchenschwund

Gesellschaftlich hat die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung verloren. «Vieles hat sich in den letzten 26 Jahren, seit ich Pfarrer bin, verändert. Bei Taufgesprächen fällt mir beispielsweise auf, dass viele Leute nicht mehr wissen, worum es bei der Taufe überhaupt geht. Vor 20 Jahren war dies noch anders.» Obwohl viele Menschen aus der Kirche austreten, gebe es Grund zur Hoffnung. «Unsere Jugendarbeit geniesst einen guten Ruf, die Jugendgottesdienste boomen.» Auch die Seniorennachmittage und die Angebote der Erwachsenenbildung sind recht gut besucht und in der Kirchgemeinde Schöftland werden viele Besuche gemacht – von freiwilligen Mitarbeitenden und Pfarrpersonen.

Die Zusammenarbeit mit der politischen Gemeinde geschieht auf verschiedenen Ebenen, ob mit der Schulsozialarbeit, dem Sozialamt oder der Alterskommission. Man kennt und schätzt sich. Gegenwärtig gibt es eine Zusammenarbeit mit der Zielsetzung, Schöftland zu einer «demenzfreundlicheren Gemeinde» zu machen.

Trotz all dem macht sich Hintermann keine Illusionen: Die Kirchenaustritte sind auch in Schöftland zahlreich; wenn es so weitergeht, wird es die Landeskirche in der jetzigen Form nicht mehr lange geben können. Das ist für ihn schmerzlich und traurig. «Aber vielleicht braucht es diese Läuterung», meint er. Als Pfarrer hat er aber keinen Zweifel: «Solange es die Welt gibt, wird es auch die Kirche geben. Die Frage ist nur, in welcher Form.» Hintermann ist überzeugt: «Man kann zwar auch ohne Kirche an Gott glauben, aber warum sollte man das wollen? Für die tragfähige Gemeinschaft, die man in einer Kirche erleben kann, gibt es keinen Ersatz.»

Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet