«Gott sieht auch in meinem Dunkel»

Anina Kuhn
Anina Kuhn aus Beatenberg war ein sehr ängstliches Kind. Ihre Überzeugung, sich möglichst nicht zu zeigen, hat ihr Leben geprägt. Doch die vierfache Mutter hat gelernt, sich mit allem, was sie ausmacht, anzunehmen und ihre Identität zu leben.

«Ich war wohl schon als Kind depressiv», hält Anina Kuhn fest. «Bei Spielen und Unternehmungen machte ich oft nicht mit, weil ich fürchtete, nicht zu genügen. Da war immer die Angst, dass mein Nicht-Können sichtbar und meine Unzulänglichkeit damit bestätigt wird.» Sie verhielt sich still und angepasst, sodass niemand in ihrem Umfeld ahnte, was alles in ihr vorging. «Ich sah mich nicht auf derselben Ebene wie die anderen Kinder, war orientierungslos, und mein Selbstvertrauen war im Keller», erkennt die 44-Jährige rückblickend.

«Ich war wohl schon als Kind depressiv.»

Von Lebensangst begleitet

In der vierten Klasse lernte Anina Klavier spielen, hier fand sie ihre Oase. «In der Musik konnte ich meinen Gefühlen schon immer Ausdruck verleihen.» Mit 16 Jahren entschied sie sich für eine persönliche Beziehung mit Jesus, doch ihre Unsicherheit blieb bestehen. Während der Pubertät suchte sie Halt in Beziehungen. Jede Ablehnung stürzte sie ins Bodenlose. Von Sinnlosigkeit getrieben, äusserte sie Suizidgedanken, sodass die Polizei eingriff. Die eingeleiteten Hilfestellungen linderten ihre Not und die dadurch entstandenen Verhaltensauffälligkeiten allerdings nicht.

In einem psychisch schlechten Zustand spürte Anina 2002 während eines Gottesdienstes einen Impuls, ihr Leben neu auszurichten. Noch am selben Tag stiess sie im Internet auf die Bibelschule Beatenberg, welche einen Jahreskurs für junge Leute anbot, die sich im Leben und in der Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben festigen möchten. Die junge Frau spürte, dass das ein Wink des Himmels war, und verliess einige Wochen später ihre Heimat in der Ostschweiz Richtung Berner Oberland.

«Meine Vergangenheit begleitete mich und hielt mich innerlich ein Stück weit verwundet und gefangen.»

Die Zeit, die ihr dort zur Verfügung stand, um sich mit ihrem Leben und der Bibel zu beschäftigen, hat sie gestärkt. Hier lernte sie auch Markus kennen. Die beiden heirateten im Frühling 2005, zwei Jahre später kam die erste Tochter zur Welt. «In allem Schönen habe ich dennoch damit gekämpft, dass man seinen Rucksack an unverarbeiteten Dingen in neue Lebensumstände mitnimmt. Meine Vergangenheit begleitete mich und hielt mich innerlich ein Stück weit verwundet und gefangen.» Panikattacken, Ängste und depressive Phasen raubten der Ehefrau und Mutter viel Energie. Mit ihrem Mann hat sie lange Gespräche geführt. Er verglich sie liebevoll mit einem Flugzeug, welches auf kleinen Rädern mühsam durchs Leben rollt. Dabei wäre es doch zum Fliegen bestimmt! Von diesem Bild angesprochen, hoffte Anina auf einen persönlichen Durchbruch. Sie wünschte sich sehr, unbeschwert leben zu können.

Schicksalsschläge

2016 starben innert weniger Monate drei Personen aus ihrem engeren Umfeld. Darunter ihr 26-jähriger Bruder, der über Nacht durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wurde. Ihre Familie erlebte, wie Gott sich in dieser schwierigen Zeit auf übernatürliche Weise um die Hinterbliebenen kümmerte. Dass Gott sie in dieser dunklen Zeit nicht allein liess, half Anina in ihrer grossen Trauer. Gleichzeitig fehlte der inzwischen vierfachen Mutter jedoch die Kraft für den Alltag. Da war auch keine Energie mehr, Fassaden aufrechtzuerhalten. Zum zweiten Mal in ihrem Leben stand sie an dem Punkt, wo sie merkte: So geht es nicht mehr lange weiter.

«Entfalte, was in dir steckt!»

Als sie von einem Wochenende für Frauen zum Thema «Entfalte, was in dir steckt!» erfuhr, packte Anina diese Chance. «Das Timing für dieses Wochenende war perfekt», erinnert sie sich. «Debora Sommer führte uns in ihren Referaten durch die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling als Sinnbild für die eigene Lebensentfaltung. Mich fesselte der Gedanke, dass in der Raupe schon alle Veranlagungen enthalten sind, die ein Schmetterling zum Fliegen braucht.» Weiter erzählt sie: «In persönlichen Gesprächen ermutigte mich Debora, in meinen aktuellen Überforderungen immer wieder neu den Blick auf Gott zu richten. Mein Schöpfer kennt mich durch und durch. Gott sieht auch in meinem Dunkel. Er weiss, was ich brauche.» Stärker denn je verspürte Anina den Wunsch, in ihrer wahren, gottgegebenen Bestimmung zu leben.

«Mich fesselte der Gedanke, dass in der Raupe schon alle Veranlagungen enthalten sind, die ein Schmetterling zum Fliegen braucht.»

Sie nahm sich wieder vermehrt Zeit, Gedichte und Texte zu schreiben. Oft zog sie sich zurück, während das Familienleben vor der Zimmertüre ohne sie stattfand. «Mein Mann hat unglaublich viel aufgefangen und die Familie zusammengehalten. Auch Freunde und meine Familie unterstützten uns sehr.» Einige Monate später nahm Anina erstmals professionelle Hilfe in Anspruch. «Das hätte ich rückblickend viel früher machen sollen», ist sie überzeugt. In der Therapie hat sie viel über sich und ihre Vergangenheit gelernt. «Und da, wo die Psychologie an Grenzen kommt, hat Gott auf heilsame Weise weitergewirkt», sagt sie.

Fliegen

Auch wenn es in der Natur eines Schmetterlings liegt, vor seiner Verpuppung im Kokon zu verharren, hat Anina nicht mit dem gerechnet, was danach kam. Drei Monate lang durchlebte sie eine Musik-Blockade. Setzte sie sich ans Klavier, kamen nur Tränen. Doch eines Tages im Frühling 2021 vertonte sie ein eigenes Gedicht. Damit kam das Songwriting in ihr Leben. Innert Kürze entstanden mehr als ein Dutzend Lieder, mit denen sie sich ihren Schmerz von der Seele schrieb und Lebensfreude besang. Ein musikalisches Tagebuch, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Oder doch? Nach dem Teilen mit Freunden sah sich Anina mit so vielen offenen Türen konfrontiert, dass dies kein Zufall sein konnte. So begann eine musikalische und persönliche Reise, bis hin zur Veröffentlichung des Albums «Ougeufschlag». Dankbar erklärt sie: «Es war ein Prozess der Heilung. Allein deswegen hat sich dieses Projekt für mich mehr als gelohnt.»

«Auch ein unperfekter Schmetterling fliegt.»

«Auch ein unperfekter Schmetterling fliegt», lächelt die begabte Frau. Auf ihr Leben bezogen meint sie damit nicht, mit eigener Musik auf der Bühne zu stehen. Vielmehr bedeutet Fliegen für sie, die eigene Art mit allen Grenzen zu akzeptieren und zu leben. Sie hat mittlerweile einige Konzerte gegeben und empfindet es als Geschenk, dass sie durch ihr Leiden anderen Zuversicht schenken kann. 

Hier geht's zur Website von Anina:
www.anina-art.ch

Autor: Mirjam Fisch
Quelle: Hope Regiozeitung