Wenn die Handykamera plötzlich ausfällt
Sommer. Endlich. Zeit für Unternehmungen, Ausflüge, Freundes- und Familientreffen. Das liebe ich. Gemeinsame Erlebnisse, Erinnerungen schaffen. Und festhalten. Es war Anfang der Sommerferien, als ich immer wieder irritiert feststellte, dass mein Handy diese Erinnerungen in Form von Fotos in einem grünen Schimmer zeigte, obwohl ich mich an keinen grünen Farbton in dieser Situation erinnern konnte. Mit der Zeit gab es noch mehr Hinweise darauf, dass mit der Handykamera etwas nicht stimmte – aber was sollte schon geschehen?
Leben ohne Status
Doch es geschah. Eine nicht funktionierende Handykamera. Mitten im Urlaub. Das Meer. Die Berge. Der Wasserfall. Strahlende Kindergesichter voller Eiscreme, der Spaziergang im Sonnenuntergang. So schöne Bilder. In meinem Kopf. Oder auf der Spiegelreflexkamera meines Mannes. Immerhin. Aber nicht in meiner Handy-Galerie. Ferienende, Schulstart. Einschulung des Sohnes. Schultüten, Ranzen, Namensschilder. Nicht auf meinen Fotos. Stolz, Aufregung, Freude. Nicht in meinem Status.
In diesen Wochen beschäftigte es mich sehr. Nicht nur die Frage, wie es mit der kaputten Kamera weitergeht, sondern viel mehr, warum genau mir diese Fotos auf meinem Handy so fehlen. Warum es mich so ärgert. Warum es sich so komisch anfühlt. Es gibt ja Erinnerungen. Irgendeiner fotografiert doch immer. Gerade mein Mann mit der guten Kamera: Die Bilder werden besser, schöner, schärfer. Aber mit der Kamera kann ich keinen Status erstellen…
Begeistert und berührt
Schon immer stehe ich diesen Status-Meldungen zwiegespalten gegenüber. Manchmal finde ich es ein übertriebenes Teilen von Einzelheiten, ein stummer Schrei nach Aufmerksamkeit, ein zu viel nach aussen Tragen. Und andererseits finde ich es etwas sehr Besonderes, wenn Menschen Momente teilen, die ihnen Freude machen, die sie zum Staunen bringen oder dankbar sein lassen. Manchmal finde ich das tatsächlich eine willkommene Abwechslung zu den bedrückenden Zeitungsartikeln, den Nachrichten im Radio oder im Fernsehen. Meistens teilen die Menschen etwas, das sie begeistert oder berührt. Manchmal macht es mich vielleicht kurz neidisch, aber meistens freue ich mich mit.
Ich bin keine Jeden-Tag-Posterin. Ich bin nicht mal bei Insta. Und doch war es seltsam, gefühlt als einzige keine Urlaubsfotos zeigen zu können oder kein glücklich grinsendes Familienfoto am Einschulungstag im Status zu haben. Tage, die ich ja durchaus staunend und dankbar erlebte und das vielleicht auch gerne geteilt hätte. Ich kämpfe seither also innerlich mit diesen Fragen und Erkenntnissen: Was will ich teilen und warum? Welche Wahrheit gebe ich wieder, welche Freude teile ich uneigennützig? Muss ich alles zeigen, will ich mich beweisen oder hoffe insgeheim auf gute Kommentare? Schwingt etwas mit wie «der Welt zeigen, dass man was erlebt?» Oder was leistet?
Der eine Moment
Schliesslich präsentiere ich im Status nur ausgewählte Dinge. Ich fotografiere in Richtung Berge, nicht Richtung Hinterhof. Ich präsentiere die Torte, als wäre es das Leichteste der Welt, obwohl sie mich die halbe Nacht gekostet hat. Ich poste diesen einen Moment, in dem alles gemütlich und friedlich scheint, obwohl vielleicht um diesen Moment herum die Kinder zanken, das Auto eine Fehlermeldung zeigt oder die Periode und mit ihr die Migräne eingesetzt hat. Dinge, die man nicht sieht, lassen sich auf Fotos eben auch verbergen oder gar verschönern. Filter machen die Haut glatter, die Farben leuchtender, das Gefühl stärker. Ein Ausschnitt eben. Manchmal wahr und falsch zugleich.
Einfach da sein
Im Film «Das erstaunliche Leben des Walter Mitty», den ich das erste Mal vor einigen Jahren und das zweite Mal einige Monate nach meiner kaputten Kamera sehe, gibt es eine Szene, die schliesslich wie für mich gedacht war. Beim ersten Mal schauen ist mir dieser kurze Dialog gar nicht so wichtig gewesen, ich konnte mich kaum daran erinnern: Ein gefragter und begabter Fotograf bekommt in landschaftlich hinreissender Kulisse ein besonders seltenes Motiv vor die Linse. Er wird vom besagten «Walter Mitty» leise und etwas ungeduldig gefragt, wann er den Auslöser drückt. «Manchmal gar nicht», antwortet er und schaut an der Kamera vorbei. Momente, die ihm besonders gut gefallen, behalte er für sich. Er möchte dann lieber «im Moment verweilen».
Der Fotograf ist natürlich ein Schauspieler und sein Text ist Drehbuch. Aber ich fühle mich an diese Wochen im letzten Sommer erinnert. Die Momente, in denen ich tausendfach dringlich und fast automatisiert dachte: «Jetzt Auslöser drücken, schnell Auslöser drücken!!!» Und es ging nicht. Ich musste im Moment verweilen. Ich durfte. Der Handgriff zum Handy fiel weg und somit der Aufmerksamkeitsabbruch in dieser Situation. Ich war mehr da, mehr im Moment. Den Augenblick konnte ich vielleicht nicht immer so, wie ich wollte, festhalten. Vielleicht gerät Manches auch wieder in Vergessenheit, ohne Foto. Aber vielleicht ist das Innehalten in diesem Augenblick doch unvergleichlich.
Ohne Ablenkung erleben
Den Sonnuntergang beobachte ich in live. In Originalfarbe. Ich erlebe ihn in meinem persönlichen Weitwinkel und nicht abgelenkt davon, ihn bei meiner Handyeinstellung zu suchen. Mein Blick verweilt auf meinem neuen Schulkind und als es mich mit seinen Blicken sucht, sieht es mich und nicht das Handy vor meinem Gesicht.
Ich bin absolut für Schnappschüsse voller Leben, Schönheit und Staunen. Und ich bin absolut dafür, Erinnerungen festzuhalten und Freude miteinander zu teilen. Ein Status ist eine leichte und schöne Möglichkeit. Dafür will ich es nutzen. Aber ich bin inzwischen auch dafür, in den wirklich wichtigen Momenten zu verweilen. Zu riskieren, dass kein Statusbild entstehen wird, aber dafür auch nicht zu riskieren, in dem wichtigen Augenblick abgelenkt von Tasten und Funktionen zu sein. Ich wünschte ich hätte das Zitat des schlauen Schauspieler-Fotografen schon im Sommer in meinem Kopf gehabt und mich mit ihm vielleicht weniger oft geärgert.
Aber hey, es ist nie zu spät für ein «manchmal gar nicht». Auch nicht mit funktionierender Kamera.
Ähnliche Impulse gibt es im Magazin JOYCE. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
Zum Thema:
Entschleunigen: Weshalb ich sonntags offline bin
Bibel Coaching: Im Hier und Jetzt leben
Alles hat seine Zeit: Wenn jeder Augenblick wichtig ist