Ansteckende Gefühle
Als Sophie die Tür hinter sich zuzieht, kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. So etwas Hinterhältiges hat sie noch nie erlebt. Ihr Vertrauen wurde ausgenutzt. Und das von einer vermeintlich guten Freundin. Gerade hat sie erfahren, dass diese Freundin anderen von der Krankheit ihrer Tochter erzählt und dabei sogar noch angedeutet hat, dass sie als Mutter schuld daran sei. Ein Schwall von Wut, Angst und Ohnmacht überkommt sie.
Der Geruch der Angst
Ihr Mann Thomas, der im Home-Office arbeitet, hört das Schluchzen seiner Frau. Sofort eilt er herbei. Während sie ihm die ganze Geschichte erzählt, merkt er, wie in ihm die gleichen Gefühle wie bei seiner Frau hochsteigen. Er fragt sich, wie er reagieren soll.
Wie ansteckend Gefühle sein können, zeigt eine im Jahr 2009 publizierte Studie. Dafür sammelten Forscher den Schweiss von 64 Menschen, die zum ersten Mal mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug sprangen. Sie hatten also echte Angst. Zum Vergleich wurde ihr Schweiss auch nach 20 Minuten Laufen auf einem Laufband gesammelt. Andere Versuchsteilnehmende rochen später daran, ohne zu wissen, was sie riechen.
Das Ergebnis: Beim Riechen von Angstschweiss reagierte ihr Gehirn im Gegensatz zum Riechen von Sportschweiss vor allem in den Arealen, die für Angst zuständig sind. Sie bekamen also selbst Angst. Angst ist also hochansteckend und sogar allein durch Geruch übertragbar. Unser Körper nimmt sie unbewusst wahr und schlägt Alarm.
Nicht nur Angst, sondern alle Gefühle sind ansteckend. Besonders dann, wenn uns eine Person wichtig ist. Diese emotionale Ansteckung hat sowohl Vorteile als auch Nachteile. In einer Partnerschaft unterstützt sie beispielsweise unsere Empathiefähigkeit. Empathie ist ein wertvoller Bestandteil einer gesunden Beziehung, weil sie uns verbindet.
Präsent und verbunden
Doch es gibt auch ein Zuviel an Empathie. Das ist dann der Fall, wenn wir die Gefühle unseres Gegenübers so stark übernehmen, dass wir selbst davon überwältigt werden. Anstatt sich vollständig von den Gefühlen des anderen anstecken zu lassen, ist es hilfreicher, liebevoll nachzufühlen. Also präsent und verbunden zu sein, indem wir uns mit den Gefühlen des anderen verbinden, ohne selbst emotional mitgerissen zu werden.
Die Haltung dahinter ist: Ich kenne ähnliche Gefühle auch, deshalb kann ich nachempfinden, wie es dir gerade geht. Und es tut mir leid, dass du das gerade durchmachst. Ich möchte an deiner Seite bleiben, während du das durchmachst. Aber es sind und bleiben deine Gefühle.
Wenn wir empathisch bleiben, ohne unseren eigenen emotionalen Boden zu verlieren, können wir mitfühlend handeln und klar denken – und gemeinsam gute Entscheidungen treffen. Die grösste Hilfe für Sophie ist Thomas, wenn er so auf sie eingeht. Wenn er ihr zuhört, Verständnis und Mitgefühl zeigt und keine vorschnellen Lösungen vorschlägt. Und wenn er sich dabei nicht von ihren Gefühlen anstecken und mit überwältigen lässt.
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