Toxische Beziehungen durchschauen und gesunde Wege finden

Saraj Stutz
In ihrem Buch beleuchtet Saraj Stutz die oft verborgenen Dynamiken toxischer Beziehungen, die uns emotional und psychisch schaden. Sie zeigt diese Muster auf und ermutigt, gesunde Wege zu finden, um sich von ihnen zu befreien und Heilung zu erfahren.

Toxische Beziehungsmuster wirken oft unsichtbar – und dennoch mit einer zerstörerischen Kraft, die das seelische Wohl tief erschüttert. Die psychosoziale Beraterin und Fachfrau für Trauma Integration Saraj Stutz, die eine Praxis in Hünibach bei Thun führt, beschreibt in ihrem Buch «Damit sich der Nebel lichtet – Toxische Beziehungsmuster hinter frommen Fassaden erkennen und heil werden» eindrücklich, wie Manipulation, Machtmissbrauch und seelische Gewalt hinter Fassaden aus Fürsorglichkeit, Frömmigkeit und Güte verborgen sein können. Gerade diese Tarnung macht es so schwierig, sie zu durchschauen. Wer auf solche Muster hereinfällt, fühlt sich oft klein, machtlos oder schuldig – obwohl der Schaden nicht in der eigenen Verantwortung liegt. Das Bewusstsein für diese Dynamiken zu schärfen, ist das zentrale Anliegen der Autorin.

Dabei geht es ihr nicht um Schuldzuweisungen, sondern um einen Weg in die Freiheit. Um diesen Weg gehen zu können, braucht es das klare Benennen von Verantwortung. Sie beginnt dort, wo wir uns ehrlich eingestehen, in welche Muster wir selbst verstrickt sind – sei es aktiv oder passiv, aus Angst, aus Unsicherheit oder aus Sehnsucht nach Anerkennung. Verantwortung heisst in diesem Sinne, sich selbst wahrzunehmen, sich ernst zu nehmen – und sich nicht länger in der Illusion zu verlieren, dass sich schon alles von selbst wieder einrenken werde.

Warum die Dynamiken weiterwirken

Ein zentraler Satz im Buch bringt die Denkweise jener auf den Punkt, die toxische Beziehungen prägen: «Mein Wille geschehe. Mein Reich komme. Hier auf Erden sorge ich dafür. Und den Himmel werde ich auch noch davon überzeugen, dass mein Weg der richtige ist.» Diese Haltung entspringt einem tiefen Kontrollbedürfnis. Oft steht dahinter eine Entscheidung oder ein Weg, der irgendwann falsch war – aber niemals eingestanden wurde. Stattdessen wird vertuscht, gerechtfertigt und beschönigt. Bald jagt eine Vertuschungsaktion die nächste. Wer so lebt, sucht keine Wahrheit, sondern Bestätigung. Schuld tragen aus dieser Perspektive immer die anderen: Sie seien zu sensibel, zu schwach, zu kritisch – oder einfach nicht gut genug. Die eigenen Abgründe hingegen werden abgestritten, verharmlost oder spirituell überhöht.

Solche Dynamiken wirken oft über Generationen weiter. Wer in einem Umfeld aufwächst, in dem Scham, Angst oder emotionale Erpressung zur Normalität gehören, lernt früh, der eigenen Wahrnehmungen nicht zu trauen. Und genau das ist es, was toxische Beziehungssysteme aufrechterhält: die tiefe Verunsicherung über sich selbst und die Angst, sich zu versündigen, wenn man gegen destruktives Verhalten Stellung beziehen würde.

Wo bist du?

Doch Heilung beginnt mit einem klaren Blick. Und mit der Bereitschaft, dem eigenen Leben zu begegnen – auch an den Stellen, wo es wehtut. Die Worte von Martin Buber aus seinem Werk «Der Weg des Menschen» sind in diesem Zusammenhang von besonderer Tiefe: «'Wo bist du?', fragt Gott Adam, der sich im Garten Eden versteckt hat. Adam verbirgt sich, um keine Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch. Die Stimme, die fragt: 'Wo bist du?', lässt sich leicht überhören. Doch solange das geschieht, wird das Leben zu keinem wirklichen Weg. Erst als Adam antwortet: 'Ich habe mich versteckt', beginnt der Weg des Menschen.»

Diese Frage – Wo bist du? – stellt sich auch uns. Sie richtet sich an unser Innerstes, dorthin, wo wir uns selbst vielleicht noch nicht ganz begegnet sind. Verdeckte Motive lassen sich nicht beweisen, wenn der Mensch sie nicht selbst anerkennen will. Und Manipulatoren – männlich wie weiblich – entschuldigen sich meist nur für Nebensächlichkeiten. Für das eigentliche Unrecht, das durch ihren Drang nach Kontrolle, Bedeutung und Anerkennung entsteht, übernehmen sie keine Verantwortung. Im Gegenteil: Ihre Opfer werden oft zu den Schuldigen gemacht – als unzureichend, zu sensibel, zu schwierig abgestempelt. Es ist ein toxischer Kreislauf, der nur durchbrochen werden kann, wenn man sich dieser Realität stellt. Dafür braucht es Wissen über toxische Beziehungsmuster – und den Mut, genau hinzusehen. Erst dann lichtet sich der Nebel, und der Blick wird klar.

Vergebung allein reicht nicht

Saraj Stutz sagt: Vergebung ist wichtig, ja – aber sie allein genügt nicht. Ohne tiefgreifende Veränderungen im Verhalten kann es keine heilvolle gemeinsame Perspektive geben. Vergebung kann ein Neuanfang sein – doch nur, wenn ihr echte Reue, Einsicht und Veränderung folgen. Sonst bleibt sie eine schöne Hülle, eine fromme Fassade, unter der der Missbrauch weiterlebt. Wer Vergeltung, Kontrolle oder Macht mit ein paar wohlklingenden Worten zudecken will, kehrt das Unrecht nur unter den Teppich. Doch was unter den Teppich gekehrt wird, verschwindet nicht – es gärt weiter, still und zerstörerisch. Wahre Heilung braucht Ehrlichkeit, die Bereitschaft zur Veränderung – und manchmal auch die Entscheidung, klare Grenzen zu ziehen, wo keine Einsicht möglich ist.

Sich von toxischen Bindungen zu lösen, bedeutet in manchen Fällen, eine Beziehung zu verlassen, aber es bedeutet vor allem, sich selbst wiederzufinden. Es ist ein Weg, der Mut erfordert. Mut, sich gegen vertraute Muster zu stellen, gegen Erwartungen, gegen das Umfeld – und manchmal sogar gegen das eigene Selbstbild. Es ist ein Weg durch Unsicherheit, durch Trauer, durch innere Zerrissenheit. Aber es ist ein Weg hin zur Wahrheit. Und Wahrheit ist immer der Anfang von Freiheit.

Am Anfang des Buches steht ein Vers, der die Botschaft von Saraj Stutz in wenigen Worten auf den Punkt bringt: «Meine Kinder, unsere Liebe darf nicht nur in schönen Worten bestehen; unser Tun muss ein echter Beweis dafür sein.» (1. Johannes 3,18, NEÜ) Dieser Vers erinnert uns daran, dass wahre Liebe mehr ist als nur schöne Worte – sie zeigt sich im Handeln. Heilung beginnt dort, wo Menschen aufhören, ausschliesslich auf Veränderung im Aussen zu hoffen, und beginnen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen sowie für diejenigen, die auf sie angewiesen sind – wie etwa Kinder oder andere nahestehende Menschen. Es ist der Moment, an dem sie sich nicht länger zurückziehen oder klein machen, sondern sich behutsam zeigen. Wo sie lernen, sich nicht länger für das zu schämen, was ihnen angetan wurde, sondern sich selbst mit neuer Achtung zu begegnen und Schritt für Schritt ihren eigenen Weg zu gehen.

Verantwortung ermöglicht Heilung

Der Weg aus toxischen Beziehungen ist nicht leicht, aber er ist möglich. Er beginnt mit der Entscheidung, hinzuschauen, und dem Wissen, dass Verantwortung keine Bedrohung ist – sondern der erste Schritt in die Freiheit. Dabei dürfen wir auf Gott vertrauen, der uns stärkt und führt.

Jeder von uns ist gefragt – nicht nur als Betroffener, sondern auch als Zeuge. Es liegt an uns, toxische Muster zu erkennen und nicht länger zu dulden. Nicht aus Angst, nicht aus Harmoniebedürfnis, nicht aus falsch verstandener Loyalität oder Eigeninteresse. Sondern aus Liebe. Aus Verantwortung.

Oder wie John Wooden es formuliert: «Der wahre Test des Charakters ist, wie du handelst, wenn niemand hinsieht.» Diese Art von Verantwortung macht uns menschlich – und sie macht Heilung möglich.

Mehr zum Thema:
Toxische Beziehungen

Zum Buch:
«Damit sich der Nebel lichtet – Toxische Beziehungsmuster hinter frommen Fassaden erkennen und heil werden», SCM Hänssler, ISBN 978-3-7751-6241-8

Sehen Sie sich hier den Talk an:

Zum Thema:
Dossier: Beziehungskiste 
Damit sich der Nebel lichtet: Toxische Beziehungen verstehen und überwinden
Vorsicht, toxisch!: Wenn eine Beziehung nicht gut tut  

Autor: Markus Hänni
Quelle: Livenet

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