«Beziehungsarbeit ist wichtiger als jedes Programm»
Der Theologe und Jugendpastor spricht mit Florian Wüthrich im heutigen Talk offen über Fehler, Learnings und darüber, warum echte Beziehungen entscheidender sind als jedes Programm.
Sammelsurium aus zehn Jahren Jugendarbeit
Den Anstoss zum Schreiben des Buchs erhielt Joel Meier aus der Buchegg Church in Zürich vor rund eineinhalb Jahren in einer Gebetszeit. Er habe zunächst «alle möglichen Ausreden» gehabt, doch schliesslich sei ihm klar geworden, dass Gott diesen Impuls schenkte. Das Resultat ist kein theoretisches Fachbuch, sondern ein Sammelband aus Erfahrungen, wobei nicht ein einzelnes grosses Thema im Vordergrund steht, sondern viele verschiedene. Es sei ein «Sammelsurium dessen, was ich in den Jahren gelernt habe», so Meier.
Joel Meier wurde vor elf Jahren Jugendpastor in der Buchegg Church, ohne dass dies ursprünglich sein Plan war. Der Vorgänger hatte gekündigt, er selbst kam frisch aus dem Theologiestudium. «Nach fünf Jahren Studium war ich ein hochqualifizierter Theologe, aber von Jugendarbeit hatte ich nicht viel Ahnung», sagt er rückblickend. Exegese könne man perfekt beherrschen. Aber wenn man mit Jugendlichen unterwegs sei, fände man sich in einer völlig anderen Sphäre wieder.
Herumhängen statt vorbeiplanen
Die ersten Jahre seien von vielen Irrtümern geprägt gewesen. «Ich werfe mir heute vor, dass ich mir viel Mühe gab, dass das Programm der Jugendgottesdienste super geplant ist», erzählt Meier. Irgendwann habe er gemerkt, dass er am Wesentlichen vorbeiplante: «Mit der Zeit wurde mir klar, dass Beziehungsarbeit viel wichtiger ist als das Programm. Ich wünschte, ich hätte das früher gecheckt und mir mehr Zeit für die Leute genommen.»
Heute achte er bewusst darauf, mindestens die Hälfte der Zeit mit jungen Leuten unterwegs zu sein und nicht hinter einem Schreibtisch zu verschwinden. Mit Jungen «herumzuhängen» gehöre nun selbstverständlich zu seinem Stellenprofil als Jugendpastor, denn: «Es geht um Menschen.»
Für Meier ist Beziehung der Dreh- und Angelpunkt jeder gelingenden Jugendarbeit: «Beziehung schafft Vertrauen zueinander und damit die Grundlage, um mit den Leuten einen Weg zu gehen. Ohne Beziehung bist du eine Stimme von Tausenden.»
Gefühle vs. Heiliger Geist
Im Talk mit Florian Wüthrich spricht der Theologe unter anderem darüber, dass heute Gefühle oft überhöht würden. Philipper Kapitel 3, Vers 19 beschreibe ein kulturelles Muster, das auch Jugendliche präge: «Gefühle sind eine der grössten Challenges dieser Generation. Sie werden fast göttlich. Viele rennen einem Gefühl nach.» Wichtig sei, zu lernen, zwischen Emotionen und dem Wirken des Heiligen Geistes zu unterscheiden: «Gefühle sind nicht der Heilige Geist. Zu lernen, das auseinanderhalten, ist unglaublich wichtig.»
Keine Parallelwelt: Jugend sollte zur Kirche gehören
Im Buch geht Meier auch auf die Frage nach der Verbindung zwischen Jugendkirche und Gemeinde ein. Früher habe die Jugendarbeit in der Buchegg Church fast wie eine eigene Kirche funktioniert – mit eigener Kleingruppe, eigener Kultur, eigener Leitung. «Für viele war es dann sehr schwer, nach der Jugendzeit in der Kirche Anschluss zu finden», teilt er im Gespräch. Deshalb habe das Team einen Systemwechsel gemacht: «Wir wollen uns als Jugendarbeit primär mit der Kirche identifizieren und nicht eine Parallelwelt zu den Erwachsenen schaffen.»
Entscheidend dabei sei «die Connection zwischen Jugendleiter und Gemeindeleiter», in seinem Falle die Beziehung zum Gemeindeleiter Matthias Theis. «Wenn wir ein Herz und eine Seele sind, wird sich auch die ganze Arbeit so entwickeln.»
«Ungeschliffene Diamanten»
Als Florian Wüthrich junge Menschen als «ungeschliffene Diamanten» beschreibt, meint Joel Meier: «Wer ist schon ein geschliffener Diamant?» Das Potenzial in Menschen zu sehen, sei für ihn nicht schwierig. «Schwierig ist der Weg durch Höhen und Tiefen, wenn das Ungeschliffene wehtut», erklärt er. Genau das sei «Jüngerschaft live». Er sehe es als etwas Schönes, mit Menschen einen Weg zu gehen und zu merken, wie Gott Menschen gegenseitig forme.
Als Jugendpastor fühle man sich auf diesem Weg selten wie ein Vorbild, führt er im Gespräch mit Wüthrich weiter aus. «Ich habe lange damit gerungen», gesteht er. Aber jemand übernehme immer eine Vorbildrolle für die Jugendlichen. «Dann lieber ich als jemand anderes, der Jesus nicht kennt», schlussfolgert er. «Jesus lebt in mir und ich bin ehrlich mit ihm unterwegs. Wenn Jugendliche das kopieren, sind sie auf einem guten Weg.»
Raum für Zweifel
Ein weiterer zentraler Punkt für Meier ist Transparenz:«Wenn Predigten nicht mehr transparent sind, verlierst du als Jugendpastor das Vertrauen.» In einer Welt voller Inszenierung werde Perfektion oft schlicht nicht geglaubt. Die Jugendkirche sollte bewusst Raum schaffen für ehrliche Zweifel: «Junge Menschen zweifeln sowieso.» Das sei auch gesund. «Lieber sollen sie in der Kirche zweifeln als ausserhalb», ergänzt er. Auch Jesus sei selbst auf Zweifel seiner Jünger eingegangen. Wichtig sei, nicht mit schnellen, oberflächlichen Antworten zu reagieren.
Da Meier einen Grossteil seiner Ausbildung an säkularen Universitäten absolvierte, schrecken ihn auch kritische Fragen nicht ab: «Man kann mich nicht so schnell überraschen.» Wenn jemand Zweifel nicht zulasse, sei das meist ein Zeichen eigener Unsicherheit.
Kultur prägen durchs «Zulassen»
Ein weiteres Kapitel seines Buches trägt den Titel «Toleriere nicht alles». «Als Leiter präge ich Kultur durch das, was ich sage, aber auch durch das, was ich toleriere», erklärt Meier. Wer zum Beispiel Unpünktlichkeit nicht anspreche, mache sie zur Norm.
«Als Leiter wollen wir das Positive kultivieren wie Verletzlichkeit oder Transparenz. Wenn jemand transparent ist und ein anderer macht darüber einen dummen Spruch, dann ist das nicht die Kultur, die wir prägen wollen», erläutert er als Beispiel. Deshalb spreche er solche Dinge an. «Wir dürfen als Jugendleiter eine Stimme sein, die ins Leben spricht und auch mal etwas Unangenehmes anspricht», sagt Meier im Livenet-Talk.
Bibel als Orientierungspunkt
«Die Bibel muss unserer Orientierungspunkt bleiben», stellt er zudem klar und ergänzt: «Wenn du nicht einverstanden bist mit der Bibel, können wir das zulassen. Aber wir sind klar in der Verkündigung, dass die Bibel Wort Gottes bleibt.» Dazu gehöre, immer wieder gemeinsam zu schauen, was die Bibel zu einem Thema meint. Oft öffne er die Bibel direkt im Gespräch mit den Jugendlichen.
Praktisches Werkzeug zum Durchstarten
Meiers Buch versteht sich vor allem als praxisnahes Werkzeug für alle, die in der Jugendarbeit unterwegs sind oder darin einsteigen, egal ob mit oder ohne Theologiestudium. Jeder der 52 Impulse wird ergänzt durch Reflexions- und Austauschfragen, die auch Gespräche im Leitungsteam anregen können. Selbst wenn man mit ihm nicht gleicher Meinung sei, meint Meier, helfe das Buch, um über die wichtigen Themen zu reden.
Auf Wüthrichs Frage, wie lange er selbst Jugendpastor bleiben wolle, antwortet Meier: «Wenn ich nicht mehr mit einem 16-Jährigen zusammen chillen oder connecten kann, muss jemand anders übernehmen.»
Zum Buch:
Kirchliche Jugendarbeit – 52 praktische Impulse für Jugendleiter
Zum Thema:
Dossier: Livenet-Talk
Talk mit Luca Zanotti: Die Kirche kann Raum einnehmen
Mit ISTL unterwegs: «Der erfüllendste Job, den du machen kannst»