«Wir sind im Glauben mehrsprachig»

Esther Bührer und Paul Horber
Esther Bühler und Paul Horber haben beide ihre Ehepartner verloren, selbst das Tal der Trauer und Ungewissheit durchschritten. Heute bieten sie Menschen in schwierigen Lebenssituationen einen Ort der Ruhe und Erholung an. Sie führen «d`Herberg».

Esther teilte sich mit ihrem ersten Mann Dieter die Pfarrstelle einer Landgemeinde im Kanton Zürich. Sie wurden Eltern von drei Kindern, und als diese im Teenageralter waren, bildete sich Esther zur Primarlehrerin aus. Seelsorge ist der Theologin nach wie vor ein grosses Anliegen. «Menschen wahrnehmen, zuhören, was sie beschäftigt, erkunden, welche Glaubenserfahrungen sie mitbringen – das interessiert mich», bestätigt die 61-Jährige.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel

Nach 21 Ehejahren erlitt Dieter Bühler einen Herzstillstand – mit 48 Jahren war Esther alleinerziehende Witwe. «Ich war völlig desorientiert», erinnert sie sich. «Aber unsere Gemeinde hat uns durchgetragen.» Menschen aus der Kirchgemeinde boten ihre Hilfe an, brachten Mahlzeiten vorbei, putzten Fenster, mähten den Rasen. «Es war berührend, wie viele sich um uns kümmerten.» Für die Kinder sei das nicht immer leicht gewesen: Sie wollten nicht als bedürftig wahrgenommen werden. Doch für ihre Mutter war die tatkräftige Hilfe ein Segen. Sie erlebte, dass Gott in dieser dunklen Zeit an ihrer Seite blieb.

Als Seelsorgerin in einem Asylzentrum, später im Unispital am Flughafen traf sie auf Menschen in herausfordernden Lebenssituationen. Ihnen hörte sie zu, sie tauschten über Lebens- und Glaubensfragen aus. «Der spirituelle Weg meines Gegenübers ist spannend», bestätigt Esther. Sie mache Mut: «Herausforderungen und Schmerz verändern sich – es bleibt nicht, wie es ist. Und Gott ist dabei.» Dabei sei sie sich bewusst: «Ich kann niemanden retten. Aber wir können gemeinsam aushalten, bis sich ein Weg auftut.» So erlebte sie, wie eine Frau mit grosser Angst vor dem nahenden Tod auf dem Sterbebett sagte: «Der Herrgott meint es gut mit mir, ich habe keine Angst mehr.»

Immer wieder hatte Esther den Gedanken bewegt, einen Ort zu schaffen, wo Menschen zur Ruhe kommen, ein Gegenüber für Gespräche finden und sich neu orientieren können. Besser wäre es, für ein solches Projekt zu zweit zu sein, egal, ob mit einer Freundin oder einem Mann, dachte sie. Entsprechende Gebete blieben jedoch lang ohne Antwort. Bis zwei befreundete Pfarrer sie unabhängig voneinander fragten: «Du bist jetzt so viele Jahre Witwe – kannst du dir vorstellen, eine neue Partnerschaft einzugehen?»

«Ich bin dabei!»

Mitte 2021 lernte Esther den Witwer und dreifachen Vater Paul kennen. Seine Frau war an Krebs gestorben: «So verstehen wir einander, wenn die Trauer über den Verlust ab und zu wieder auftaucht.» Allerdings vermutete sie: «Als Ingenieur ist er sicher nicht an einem Gästehaus mit seelsorgerlichem Angebot interessiert.» Doch als sie auf dem ersten Spaziergang von ihrer Vision erzählte, fand er: «So etwas ähnliches hatte ich früher auch mal im Sinn. Jetzt werde ich bald pensioniert – ich bin dabei!» Im November des gleichen Jahres nahmen sie das Projekt gemeinsam in Angriff. Sie lassen sich dabei von Freunden und Fachleuten begleiten.

Inzwischen konnten sie in Frauenfeld ein Haus mit drei Gästezimmern mieten. Sie bieten Rückzugsmöglichkeit, morgendliche Stille und eine gemeinsame Abendmahlzeit an, Räume für die gemeinsame Nutzung und einen wunderschönen Garten. Dazu auch Beratungs- und Seelsorgegespräche ohne Aufenthalt oder die Nutzung der Zimmer für eine schriftliche Arbeit. Esther hat ergänzend ein kleines Pensum in der evangelischen Kirchgemeinde Frauenfeld. Für ihr innovatives Projekt bekam das Paar zu Beginn Fördergelder der Zürcher Landeskirche. Heute vermitteln ihnen medizinische Fachleute ab und zu Klienten, wenn sie davon ausgehen, dass ihnen neben Therapie das persönliche Ambiente der Herberge guttun könnte.

Zeit schenken

Esther und Paul sind fest im christlichen Glauben und der reformierten Kirche verwurzelt, doch auch «im Glauben mehrsprachig». So hätten sie erlebt, wie eine Frau einengende Erfahrungen mit einer Freikirche hinter sich gelassen und nach vielen Jahren einen tiefen, freien Glauben und eine neue Heimat in der Landeskirche gefunden habe. Eine andere wollte zuerst nichts von Gott wissen. Nachdem Esther die Kranke immer wieder besucht und ihr einfach Zeit geschenkt hatte, wollte diese von ihr beerdigt werden. «Wir haben dann miteinander besprochen, was ihr dabei wichtig ist», erzählt die Pfarrerin. 

Du bist eingeladen

Der Tag startet und endet mit einer geleiteten Meditation zu einem Bibel- oder anderen Text oder in Stille. «Es gibt eine reiche christliche Tradition an Formen, um zur Ruhe zu kommen», erklärt Esther begeistert. Niemand müsse teilnehmen. Doch sie erlebe, dass auch junge Leute nach Spiritualität suchten. Und darauf geht das Angebot der «Herberg» ein. Paul ist ehrenamtlicher Allrounder; er kümmert sich um alle administrativen Arbeiten und ist als Hausmann, Koch und Gärtner aktiv, wer mag, darf ihm helfen. Mit Esther zusammen vertraut er darauf, dass Gott ihnen Gäste schickt und Sponsoren für diejenigen, die den Aufenthalt nicht vollständig bezahlen können.

«Manchmal hilft es schon, gemeinsam am Tisch zu essen und dabei ins Gespräch zu kommen», erzählt er. Ein junger Vater sei zu ihnen gekommen, nachdem er beinahe gewalttätig geworden wäre gegen seine Familie. Er habe sich selbst nicht mehr erkannt und einen Ort gebraucht, wo er sich reflektieren konnte. Im Hotel fühlte er sich verloren; dass in der Herberge fast immer jemand zuhause ist, passte besser. «Nach zwei Wochen kehrte er neu gestärkt nach Hause zurück», erinnert sich Paul, während er mit Esther die Kühle im Garten geniesst.

Zur Website:
d'Herberg

 

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Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: Livenet

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