Donnerstag, 2. Mai 2024

Im Sprint zurück in die Freiheit

Irmgard Bensusan
Sie war auf dem besten Weg zu den Olympischen Spielen, als ein Unfall alles zerstörte. Doch Irmgard Bensusan stand wieder auf, kämpfte, glaubte, betete. Heute ist sie eine der schnellsten Paraläuferinnen der Welt.

«Laufen ist für mich Freiheit», sagt Irmgard Bensusan. Die 32-Jährige lacht viel, ist entspannt, nimmt sich Zeit für das Interview, auch wenn es schon Abend geworden ist und sie den ganzen Tag unter der frühlingswarmen Sonne Lanzarotes trainiert hat. Dort bereitet sie sich auf die nächsten Wettkämpfe für ihren Verein TSV Bayer 04 Leverkusen vor, wo die gebürtige Südafrikanerin unter Vertrag steht. Sechsmal hat sie schon Goldmedaillen gewonnen, insgesamt 13 Mal Silber.

Sie gehört zu den Erfolgreichsten in ihren Disziplinen 400-, 200- und 100-Meter-Lauf. Wer Bensusan beim Sprinten beobachtet, muss genau hinsehen, um die schwarze Schiene an ihrem rechten Bein zu bemerken. Mit ihr verbundene Bänder sind um den Fuss und die Wade der Sportlerin gewickelt. Ohne diese sogenannte Orthese hinge ihr Fuss schlaff herunter, Sprints wären unmöglich.

Trotzdem ein Weltrekord

Denn Bensusan leidet unter einer sogenannten Fusshebeschwäche, der Grund ist eine Nervenschädigung in ihrem rechten Bein. Dank Training und Schiene läuft sie die 200 Meter dennoch in unter 27 Sekunden – 2016 stellte sie damit den Weltrekord im Parasport auf. Dabei sagten ihr die Ärzte vor 14 Jahren, sie würde nie wieder bei einem Wettkampf antreten können.

Im März 2009 ist Bensusan gerade einmal 18 Jahre alt und gehört schon zu den besten Sprinterinnen ihrer Heimat Südafrika. An diesem Tag tritt sie bei den nationalen Meisterschaften in Pretoria an. Sie ist auf dem besten Weg ins Nationalteam, die Olympischen Spiele scheinen greifbar. Sie sind Bensusans Traum, seit sie ein kleines Kind war.

Ein Sturz verändert alles

Bensusan macht sich warm, dehnt sich, überspringt einige Hürden. Dann passiert es: Sie blickt kurz zur Seite, weil ein anderer Sportler nah an ihr vorbeiläuft, ist abgelenkt, bleibt an einer Hürde hängen und stürzt vornüber. Bensusan liegt auf dem Bauch und denkt: «Los, aufstehen, weitermachen!» Sie ist schon oft gefallen, das gehört zum Sport dazu. Ihr linkes Bein zieht sie nach vorne, doch als sie ihr rechtes nachziehen möchte, versagt es ihr den Dienst.

Erst da blickt sie nach hinten und sieht, dass einer der Beinknochen kurz unterhalb des Knies in einem unnatürlichen Winkel absteht. Ihren Fuss kann sie nicht mehr bewegen. Offenbar ist ihr Knie beim Sturz nach hinten weggebrochen. Da schreit Bensusan so laut sie kann. «Ich glaube, ganz Pretoria hat mich gehört.»

Einige Untersuchungen später steht fest: Neben Knochenbrüchen hat Bensusan einen Kreuzbandriss im Knie erlitten und die Nervenbahnen sind geschädigt. Die Ärzte sind sich sicher: «Sie werden nie wieder so laufen wie vorher.» Und sie behalten recht. Heute beschreibt Bensusan das Gefühl in ihrem Fuss so: «Es ist, als hättest du lange gesessen, versuchst dann aufzustehen und dein Fuss ist eingeschlafen. Ich habe quasi einen eingeschlafenen Fuss, der nie wach wird.» Sie kann Witze darüber machen, nennt ihr lädiertes Körperteil sogar «Schluffi». Doch die ersten Jahre nach dem Unfall sind ihr ganz persönlicher Alptraum.

Wieder den Luftzug im Gesicht spüren

Zweimal muss Bensusan nach dem Unfall operiert werden. Ihre Lage verbessert sich dadurch kaum. Der Leistungssport ist Vergangenheit. Noch im Krankenhaus bricht die junge Frau zusammen. «Warum hat Gott mich nicht mehr lieb?», fragt sie ihre Mutter weinend. Diese war ebenfalls Leistungssportlerin und hat ihre Tochter immer unterstützt. Sie teilen auch den christlichen Glauben. «Es ist nicht so, als hätte ich nicht mehr an Gott geglaubt. Ich hatte einfach das Gefühl, er hört mich nicht mehr», erinnert sich Bensusan.

Drei Jahre nach dem Unfall fällt sie noch dazu durch ihr Examen im Fach Steuerwesen. Sie fragt sich: «Ist das eine Strafe Gottes? Oder bin ich einfach nichts wert?» Nachdem nun auch das Studium verloren scheint, realisiert Bensusan, wie unglücklich sie ist. Und sie beschliesst, etwas daran zu ändern. Die damals 21-Jährige ruft ihre ehemalige Trainerin an und bittet um Trainingsstunden. Sie will wieder diesen Luftzug im Gesicht spüren und die Spikes unter ihren Füssen.

Und so steht sie schon wenige Tage später – jetzt mit stabilisierender Schiene am Bein – wieder auf der Asche­bahn. Sie spürt die Freiheit wieder, ist zurück in ihrem Element. Sie trainiert nicht mehr den Hürdenlauf, das ist mit ihrem Fuss nicht möglich. Aber sie sprintet. 100 Meter, 200 Meter, 400 Meter. Und sie wird wieder schnell.

Wieder ein Rückschlag

Ein halbes Jahr, nachdem sie das Training aufgenommen hat, wird sie von einem Parasport-Coach entdeckt. Er will sie bei den nationalen Meisterschaften sehen, organisiert ihr einen Termin bei einer Gutachterin. Denn wer bei Wettbewerben im Parasport antreten will, muss sich klassifizieren lassen. So wird sichergestellt, dass die Wettkämpfe fair sind und Sportler mit ähnlichen Einschränkungen gegeneinander laufen oder springen. Tatsächlich erhält Bensusan im Mai 2013 die Klassifikation und läuft erneut nationale Wettkämpfe. Sie beginnt wieder, zu träumen – jetzt von den Paralympics.

Doch schon ein Jahr später scheint sich auch diese Hoffnung in Luft aufzulösen. Für die Spiele braucht jeder Sportler eine erneute Anerkennung. Bensusan gibt alles bei den Tests, unter anderem soll sie sich zehnmal aus eigener Kraft auf die Zehenspitzen stellen. Es gelingt ihr, aber nicht mithilfe der Zehen, sondern mit Schwung und unter Zuhilfenahme ihrer Oberschenkelmuskeln. Die Gutachter bemerken das nicht, beraten sich lange. Schliesslich teilen sie Bensusan mit: Sie darf nicht antreten. Ihre Behinderung sei nicht schwerwiegend genug. Nun sind auch die Paralympics gestorben, denkt sie. Und wieder flüstert eine Stimme in ihrem Kopf: «Gott, warum nimmst du mir alles, was ich liebe?»

So schnell wie nie zuvor

Doch die Sportlerin hat die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Die ist in Deutschland geboren, ihre Tochter hat deshalb von jeher eine doppelte Staatsbürgerschaft. Sie schlägt Bensusan vor, die Klassifikation in der Bundesrepublik zu wiederholen. Und sollte sie gelingen, künftig dort zu laufen. Gemeinsam mit ihrer Mutter knüpft sie Kontakte zum Verein in Leverkusen, der tatsächlich Interesse zeigt. Und so packt Bensusan schliesslich ihre Sachen und reist nach Deutschland. Begleitet vom Verein gelingt die zweite Klassifikation.

Zwei Jahre später macht Irmgard Bensusan sich bereit für den 400-Meter-Lauf. Sie startet auf Bahn drei. Kurz bevor es losgeht, winkt sie schüchtern in die Kamera. Hier steht sie, mitten im Stadion in Rio de Janeiro, umgeben von den besten Paraläuferinnen der Welt. In den Rängen sieht sie ihre Familie. Alle sind gekommen, ihre Eltern, die Geschwister, ihre Schwägerin. Sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift «Team Irmgard».

Und als der Startschuss fällt, brüllen sie alle aus vollem Hals, als könnten allein ihre Rufe Bensusan ins Ziel tragen. Die Läuferin selbst ist ganz bei sich. Um sie herum ist es laut, aber in ihr wird es still. «Gott, lass mich durchhalten, gibt mir die Kraft, das zu Ende zu bringen, lass mich durchhalten, lass mich durchhalten», betet sie, denn die 400 Meter sind für sie die härteste Disziplin. Genau 59,62 Sekunden später ist es vorbei. Sie ist als Zweite über die Ziellinie geflogen, so schnell wie noch nie zuvor bei einem Wettkampf. Auf der Zuschauertribüne rastet ihre Familie aus vor Freude.

«Das war der glücklichste Moment in meiner Laufkarriere», sagt Bensusan, als sie sich mittlerweile sieben Jahre später in ihrem Zimmer auf Lanzarote daran erinnert. «Als wäre meine Familie mit mir auf der Bahn gewesen.» Was einst Bensusans grösster Verlust war, der Unfall mit 18 Jahren, ermöglicht ihr nun den grössten Triumph. Nach all den Kämpfen, den Schmerzen, dem Weinen und dem Wiederaufstehen ist sie sich jetzt sicher: «Gott hat mir das grösste Geschenk gegeben. Ich wäre heute nicht der Mensch, der ich bin, wenn das alles nicht geschehen wäre. Und jede Medaille bei den Paralympics bedeutet mir mehr als alles, was ich je bei den Olympischen Spielen hätte holen können.»

Dieser Artikel erschien zuerst bei PRO Medienmagazin.

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Autor: Anna Lutz
Quelle: PRO Medienmagazin

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