Risse in der Biografie

Ein älterer Mann hält einen jüngeren zurück
Viele Menschen scheitern an ihrer Schwachstelle. Auch in der Bibel gibt es diverse Beispiele. Doch diese Risse in der Biografie sind nicht nur negativ - sie können Menschen geniessbarer machen.

Die «Sollbruchstelle» gehört zweifellos zu den faszinierenden Wörtern unserer deutschen Sprache. Sie in eine andere Sprache zu übersetzen, ist ähnlich umständlich, wie es bei «Geborgenheit» oder «Schnapsidee» der Fall ist. Dennoch drückt sie schnörkellos und präzise aus, worum es geht: Eine Stelle, an der etwas brechen soll. Im Maschinenbau wird damit eine bewusst geschaffene Schwachstelle bezeichnet, an der das Material weniger belastbar ist. Wenn es zu einer Überlastung kommt, soll hier und nicht woanders die Konstruktion brechen. Der frühzeitige Stopp verhindert den Totalschaden und lässt sich meistens unkompliziert beheben – vorausgesetzt, man hat die nötige Fachkenntnis. Längst ist dieser Begriff aus der Welt des Ingenieurwesens ausgewandert und im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen. Schliesslich zerbrechen nicht nur Maschinen, sondern auch Schokoladentafeln und Kinderspielzeug, Freundschaften und Regierungskoalitionen. Wo die Bruchlinie verlaufen wird, ist oft schon vorher zu erahnen.

Bruchlinien im Männerleben

Auch in der Bibel begegnen uns Männer, die an ihrer Sollbruchstelle scheitern. Interessanterweise liegt die Schwachstelle oft in dem «Bauteil», das diese Männer am meisten in Bewegung bringt und zu Höchstform antreibt. Sie ist die Kehrseite ihrer Stärke. Wenn der Druck zu hoch wird, kommt es zum Bruch. Dieses kontrollierte Scheitern führt jedoch nicht zum Totalschaden. Im Gegenteil: Nach der fachmännischen Heilung gehen diese Männer mit neuer Energie und Kraft an das, wofür ihr Herz brennt.

Die Leidenschaft für das Schöne verführt David in einem Augenblick ungestillter Sehnsucht, mit einer verheirateten Frau zu schlafen und sogar ihren Ehemann aus dem Weg zu räumen. Nicht nur seine Beziehung zu Gott zerbricht an dieser Stelle, sondern auch seine Selbstachtung und sein eigenes Familienglück. (2. Samuel 11)

Der Sinn für Gerechtigkeit überkommt Mose in einem Augenblick unkontrollierter Aggression und lässt ihn einen ägyptischen Aufseher erschlagen. Er verliert seine Stellung am Königshof und sein Selbstvertrauen. Jahrzehntelang muss er sich als einfacher Schafhirte in der Wüste durchschlagen. (2. Mose 2)

Die impulsive Spontaneität verleitet Petrus in einem Augenblick hemmungsloser Selbstüberschätzung dazu, Jesus kompromisslose Treue zu versprechen – nur um wenige Stunden später gleich dreimal krachend zu scheitern. Er ist so sehr am Boden zerstört, dass es nach der Auferstehung eine Privataudienz bei Jesus braucht, um ihn wieder auf die Beine zu stellen. (Johannes 18 und 21)

An allen dreien lässt sich schön sehen: Sie scheitern an der Stelle, wo ihnen das Herz brennt. Doch das kontrollierte Scheitern ist nicht das Ende. Im Gegenteil: Gott gibt diese Männer nicht auf. Er heilt den Schaden und macht sie für das Kommende bereit: Petrus leitet die erste Christengemeinde, Mose führt ein Volk in die Freiheit und David wird zum grössten Poeten der Bibel. Der Riss in der Biografie bleibt bei allen sichtbar und spürbar, doch er wird zu der Stelle, durch die Gottes Gnade in ihr Leben fliesst.

In besonderem Masse gilt das für den Apostel Paulus. Keiner hat mehr Schriften im Neuen Testament verfasst, keiner mehr Gemeinden gegründet, keiner die gute Nachricht von Jesus so umfassend durchdacht und erklärt. All das wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht über seine Sollbruchstelle gestolpert, ja an ihr gescheitert wäre. Seine «materielle Schwachstelle» ist das Streben danach, nicht nur gut, sondern besser zu sein. Psychologen sprechen heute von der Perfektionismusfalle. Aus Angst, von anderen kritisiert und abgelehnt zu werden, setzt man seine eigenen Ansprüche so hoch, dass man sich ständig zu Höchstleistung antreibt. Es ist nie genug. Denn: Gut ist nicht gut genug.

Woher kommt dieser Perfektionismus? Haben die Eltern ihren Anteil daran? Bei Paulus könnte dies durchaus der Fall gewesen sein. Jedenfalls hatte der Vater sich das römische Bürgerrecht erarbeitet – ein enormer sozialer Aufstieg und Prestigegewinn für eine jüdische Handwerkerfamilie. Um diese Erfolgslinie fortzusetzen und gleichzeitig die Verbindung zu ihren Glaubenswurzeln deutlich zu machen, schickt er seinen Sohn zum Tora-Studium nach Jerusalem. Bei einem der berühmtesten Lehrer der damaligen Zeit studiert Paulus die alten Überlieferungen und schliesst sich der Bewegung der Pharisäer an. Sie haben das Anliegen, ein fehlerloses Leben zu führen und sich an alle Gebote zu halten – und zwar nicht nur an die, die in den heiligen Schriften stehen, sondern auch an die noch viel strengeren, die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurden. Wenn Gott einmal auf ihr Leben schaut, soll er sagen: «Alles perfekt. Eins Plus. Besser geht’s nicht.» Dieses Anliegen ist ehrenwert, aber gefährlich. Und eine Sollbruchstelle – zumindest für Paulus.

Schwachstelle Ehrgeiz

Notwendig war dieser Perfektionismus nicht. Das Judentum war und ist keine reine Gesetzesreligion, auch wenn dieses einseitige Bild zum Teil bis heute verbreitet ist. Nein, es gibt schon zur Zeit des Paulus Strömungen, die die Gnade Gottes und seine Vergebung mehr betonen als die eigene Leistung. Paulus entscheidet sich dennoch für die Pharisäer, so wie viele Menschen die äussere Situation wählen, die ihrer inneren Persönlichkeitsstruktur am meisten entspricht. Das bekannte Muster tut langfristig nicht gut, bringt aber kurzfristig Stabilität.

Im Rückblick auf diese Zeit schreibt Paulus mit ironischer Distanz, dass er selbst unter den Besten noch zu den Besten gehörte, dass er nach den damaligen Massstäben tadellos lebte und alle Gleichaltrigen übertraf. Wenn einer stolz auf seine Herkunft, seinen Eifer und seine Leistung sein kann, dann er. Doch dieser Ehrgeiz wird zur Bruchstelle. Jemand stellt sich ihm in den Weg und zeigt ihm: So geht’s nicht weiter, mein Freund.

Was ist passiert? Paulus ist gerade auf dem Weg in die Stadt Damaskus. Dort verfolgt er die Anhänger eines Wanderpredigers namens Jesus. In seinen Augen ist dieser Mann aus Nazareth ein gefährlicher Falschprophet. Er hat den Menschen leichtfertig Gottes Vergebung versprochen, anstatt sie im Gesetz zu unterweisen. Er hat diejenigen zum Reich Gottes eingeladen, für die Paulus als Pharisäer nur Verachtung übrighat. Wo kämen wir hin, wenn man Gottes Zuwendung einfach so geschenkt bekäme! Zu Recht – so denkt Paulus – ist dieser Jesus von den Römern als Schwerverbrecher hingerichtet und von Gott am Kreuz öffentlich verflucht worden.

Kurz vor Damaskus wirft ihn ein helles Licht von seinem hohen Ross – im übertragenen und wörtlichen Sinn. Derselbe Jesus, den er verachtet und bekämpft hat, zeigt sich ihm – umstrahlt von der Herrlichkeit Gottes. Paulus erkennt innerhalb weniger Augenblicke: Ich habe den Falschen verfolgt. Jesus war kein verrückter Spinner und liegt nun tot in seinem Grab. Er ist auferstanden und lebt. Seine Anhänger haben recht: Er ist wirklich der Christus, der erwartete Messias, der Sohn Gottes.

Nach diesem Schock ist Paulus ein paar Tage lang blind. Er muss die Welt neu sehen lernen. Denn er hat nicht nur Jesus falsch beurteilt, sondern auch die Beziehung, in der Gott zu den Menschen steht. Ja, Gott ist heilig und gerecht. Aber er fordert keinen Perfektionismus, sondern will Liebe und Vertrauen. Er belohnt nicht die Fehlerlosen und verdammt alle, die an den hohen Massstäben Gottes scheitern. Nein, er nimmt in Jesus selbst die Last der Schuld auf sich und trägt die Konsequenzen. Er zeigt seine Gerechtigkeit gerade so, dass er sie denen schenkt, die es nicht verdient haben.

Ich stelle mir vor, wie Paulus in den Tagen seiner Blindheit die auswendig gelernten heiligen Schriften innerlich durchscannt und entdeckt: Da steht es doch! Ich war von meinem eigenen Ehrgeiz und Perfektionismus so geblendet, dass ich blind für die Gnade Gottes wurde! Später wird er in seinen Briefen auf diese Stellen hinweisen: «Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer […]. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.» (Psalm 14,1.3; zitiert in Römer 3,10.12). Darum: «Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben sind.» (Psalm 32,1; zitiert in Römer 4,6).

Das Scheitern bewahrt vor dem Totalschaden

Das Scheitern an der Sollbruchstelle bewahrt Paulus vor dem Totalschaden. Er erfährt am eigenen Leib, was er später überall im Römischen Reich verkündigen wird: Gott vergibt denen, die sich völlig verrannt haben. Er gibt ihnen die Chance, neu anzufangen. Paulus nutzt sie. Er stellt die Weichen seines Denkens neu. Er richtet seinen Kompass neu aus. Hatte er früher das Ziel, ohne Fehler vor Gott bestehen zu können, so lebt er jetzt in der Gewissheit, trotz seines Versagens geliebt und angenommen zu sein. Die Sollbruchstelle wird geheilt. Paulus wird zum Perfektionisten der Gnade. Er will der Beste darin sein, nicht mehr aus eigener Kraft der Beste sein zu müssen.

Und dennoch bleibt der Materialbruch sichtbar und spürbar. Keine Person der Bibel schaut so oft und schonungslos auf ihr eigenes Versagen zurück. Viermal erzählt er in seinen Briefen davon (Galater 1,13-14; Philipper 3,3-6; 1. Korinther 15,9; 1. Timotheus 1,12-13), dreimal berichtet die Apostelgeschichte darüber (Apostelgeschichte 9,1-19; 22,1-16; 26,9-18). Paulus geht hart mit sich ins Gericht. Er nennt sich in diesen Versen eine «Fehlgeburt», einen «Lästerer» und einen «Frevler», ja den «schlimmsten Sünder» überhaupt. Der Materialbruch an der Sollbruchstelle bleibt schmerzhaft, auch wenn sein Leben von Gottes Vergebung wie durch eine Schweissnaht zusammengehalten wird. Der Riss in der Biografie bleibt. Doch dieser Riss ist genau die Stelle, durch die unaufhörlich Gottes Gnade und Liebe in sein Leben fliessen. Wie gut kann es sein, nicht ganz dicht zu sein!

Dr. Dirk Kellner lebt mit seiner Familie im Markgräflerland südlich von Freiburg. Er ist Pfarrer einer kleinen Dorfgemeinde, Lehrer am Gymnasium und selten «radlos», wenn die Berge rufen. Er ist Herausgeber der «Hoffnung für alle. Die Bibel. Waymaker Edition». Interessiert an mehr solcher Impulse von MOVO? Gönne dir oder Freunden jetzt einen günstigen Jahresabogutschein des Magazins hier.

Zum Thema:
Den Glauben entdecken
Durch Jesus vollkommen werden: Nicht perfekt, aber vollkommen 
Charakterschwäche?: Perfektionismus ist nicht immer schlecht 

Autor: Dirk Kellner
Quelle: Magazin MOVO 03/2025, SCM Bundes-Verlag