Alte Kirche – neue Nutzung

Diverse Kirchen in ganz Deutschland sollen abgerissen werden
In den nächsten Jahren werden in Deutschland Tausende Kirchen verkauft, vermietet oder abgerissen. Im Kirchenmanifest weist eine Initiative auf den kulturellen Wert der Gebäude hin – und wird damit Teil des Problems, findet Hauke Burgarth.

Es sind klingende Namen, die momentan vergeben werden. Aus einer alteingesessenen Dorf- oder Stadtkirche wird ein «Nachbarschaftsraum». Das klingt nach Nähe, obwohl die Entfernungen zum nächsten Gottesdienst oft grösser werden. Das klingt nach Begegnung, obwohl weniger Personal eingeplant ist, das man treffen könnte. Und es hat auch Auswirkungen auf ein jahrhundertelang unumstössliches Prinzip: Jedem Dorf seinen Kirchturm.

Geplanter Ausverkauf

Karin Berkemann ist Theologin und Kirchenhistorikerin. Dem Sonntagsblatt erklärt sie die Situation: «Wir gehen davon aus, dass es in Deutschland etwa 40 bis 45'000 evangelische und katholische Gemeindekirchen gibt und ein Drittel bis die Hälfte, also so um die 20'000 dieser Gebäude in den nächsten Jahren infrage gestellt werden.» Sie sollen also entweiht, verkauft oder gar abgerissen werden – bestenfalls weitergenutzt und dabei untervermietet. Dass evangelische und katholische Kirchen sich ihre Immobilien auf Dauer so nicht mehr leisten können, scheint unstrittig, aber Berkemann ergreift zusammen mit anderen die Initiative und weist in einem «Kirchenmanifest» darauf hin, dass es eben nicht nur um Steine und Kosten gehe, sondern dass Kirchen samt ihrer Ausstattungen zu den «wichtigsten Zeugnissen des Kulturerbes in Europa» gehörten. Neben dem Initiatorenkreis haben bereits um die 22'000 Personen das Manifest unterschrieben und plädieren dafür, Kirchengebäude als «Gemeingüter» zu erhalten.

Segen und Vorteile durch Kirchenräume

In ihrem Manifest zählen die Unterzeichnenden etliche Argumente auf, die für den Erhalt von Kirchengebäuden sprechen. Weil die Kirche selbst dies nicht leisten könne, sollen andere Formen gefunden werden: Der Staat oder Stiftungen sollen einspringen. Als Gründe werden angeführt, dass Kirchengebäude immer «mehrfach codiert» seien, als Orte der Gottesbegegnung genauso wie als Orte der Kunst, des Handwerks und der Musik. Es seien «radikal öffentliche Orte», in denen alle Raum finden würden, ausserdem gehörten sie zum kulturellen «Erbe Europas», die Kunst, Geschichte und kulturelle Entwicklung zeigen – nicht umsonst ist immer noch vom christlichen Abendland die Rede. Dass sich in der Nutzung dieser Gebäude etwas ändern muss, ist unstrittig, doch den Initiatoren des Kirchenmanifests ist es wichtig, diesen Prozess konstruktiv mitzugestalten: «Kirchengebäude sind zu schön, zu wertvolle öffentliche Räume, um sie abzureissen. Anstelle von Abriss fällt uns mit Sicherheit etwas Neues und Besseres ein.»

Eine Initiative ohne Lösungsorientierung

Vieles, was das Kirchenmanifest vorschlägt, ist unstrittig. Kirchengebäude gehören zum Dorf- und Stadtbild dazu. Doch wenn in den Informationen zum Kirchenmanifest an erster Stelle «Kunst, Glocken und Orgeln» genannt werden, dann sagt dies auch viel zum Selbstverständnis von Kirche aus. Ging es da nicht irgendwann einmal um Menschen? Über die wird am Rande festgestellt: «Immer weniger Gläubige nutzen die Räume.» Das ist in der Tat schade, doch sollte die Initiative dann nicht vielmehr darauf zielen, Menschen zu erreichen, als das leere Gebäude zu erhalten, das sie hinterlassen? So wird Kirche in der Diskussion zur musealen Struktur, doch Struktur hat noch nie Leben hervorgebracht.

Sicher ist es wichtig, keine «Schnellschüsse» zu produzieren, abreissen geht immer leichter als aufbauen. Aber jeder Blick in die Zukunft ist eine Frage der Perspektive: Geht es Christen darum, teure, kaum genutzte Gebäude zu erhalten, um auf eine grosse Vergangenheit hinzuweisen? Oder setzen sie den Schwerpunkt auf das, was wirklich «Kirche» ist: die Gemeinschaft der Menschen, die Jesus Christus herausgerufen hat? Diese Fragen bilden kein echtes Entweder-oder, aber sie fordern Gläubige heraus, Prioritäten zu setzen.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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