Sonntag, 5. Mai 2024

«Vergesst uns nicht wieder»

Zerstörte Strassen und Häuser in Syrien
Matthias Schwab koordiniert beim Hilfswerk HMK (Hilfe für Mensch und Kirche) Hilfsprojekte in Nordsyrien. Er steht in engem Kontakt mit Helfern und einheimischen Partnern vor Ort und berichtet im Interview von der aktuellen Lage.
Das Hilfswerk HMK bei der Arbeit

Herr Schwab, wie ist die Lage in Nordsyrien?
Die Lage ist verworren und die Menschen sind verzweifelt. Eine Region, in der die Bewohner sowieso schon unter Krieg, Mangel und Versorgungsengpässen leiden, wurde von einem der stärksten Erdbeben getroffen. Viele Quartiere und Regionen sind durch Frontlinien abgeschnitten und von aussen gar nicht zu erreichen. Einige Gebäude stürzten schon vor den Erdbeben ein, weil sie durch Bombenangriffe erschüttert wurden. Das Ausmass der jetzigen Zerstörung ist riesig. In den Städten schlafen die Menschen immer noch draussen. Es gibt niemanden, der ihnen hilft, ihre Wohnungen vom Schutt zu befreien. Viele von ihnen fliehen in die Flüchtlingscamps vor den Städten. Doch auch dort herrscht Mangel – kein Heizmaterial, kein Trinkwasser, kein Essen.

Was sind die Bedürfnisse der Opfer?
Viele haben ihr Zuhause panisch verlassen. Sie haben nur das dabei, was sie im ersten Moment in der Hand hatten – vielleicht ein Handy. Deshalb fehlt es ihnen an allem: Kleidung, Decken, Essen und Wasser. Jetzt ist auch in Syrien Winter, und es ist kalt. Die Menschen brauchen dringend Heizmaterial, um sich in den Ruinen und draussen warm zu halten.

Am heftigsten sind die Angst und die Verzweiflung. Die Angst um das eigene Leben ist gross. In den Städten entstanden auch Massenpaniken. Wenn jemand sich einbildete, ein Nachbeben zu spüren, verliess die ganze Nachbarschaft ihr Viertel. Dazu kommt die Verzweiflung: Menschen, die ihre Liebsten verloren haben, andere, denen alles genommen wurde… Jetzt haben sie schon so viele Jahre im Krieg überlebt, wie sollen sie sich je wieder hocharbeiten? 

Wie arbeiten Sie vor Ort?
Wir haben unsere Nothilfe-Teams in Regionen, die mit am stärksten betroffen sind – in Aleppo, Afrin und Al-Shahbaa. Seit Jahren engagieren wir uns mit einheimischen Partnern für die Menschen in diesem schwer gebeutelten Kriegsgebiet Nordwestsyriens und hatten unsere Infrastruktur für Nothilfe schon vor dem Beben einsatzbereit. Unsere Leute vor Ort wissen, was gebraucht wird, und wir organisieren und koordinieren den ganzen Einsatz jetzt auch für die Erdbebenopfer. Mit unseren lokalen Partnern können wir auf viele freiwillige Helfer zählen, die unsere Hilfsgüter verteilen.

Was tun Ihre Partner, um den Menschen zu helfen?
Zum einen arbeiten wir in den Flüchtlingslagern nördlich von Aleppo, die immer wieder vergessen gehen, weil sie zwischen den Frontlinien schwer zu erreichen sind. Seit vier Jahren haben wir dort Teams vor Ort, die Essen, Kleidung und Zelte verteilen. Auch jetzt sind diese stark gefordert, denn viele Familien flohen aus Furcht vor weiteren Nachbeben aus den Städten. Unsere Partner in den Städten wie Aleppo haben Kirchengebäude und Schulen rund um die Uhr geöffnet, damit Menschen sich aufwärmen können. Sie verteilen Brot, Wasser, Jacken und Decken an diejenigen, die noch in den Parks der Stadt schlafen. Sie leisten auch wichtige Seelsorgearbeit, indem sie zuhören, trösten und ermutigen und auf die dringendsten Nöte der Menschen reagieren und helfen. Bald wollen unsere Partner damit beginnen, zerstörte Gebäude zu sichern und zu renovieren, damit Menschen wieder in ihre Wohnungen zurückkehren können.

Wie können wir Schweizer die betroffenen Syrer unterstützen?
Die beste Hilfe sind Geldspenden und Gebet – die Syrer brauchen dringend unsere Unterstützung. Vor allem die Leiter, die andere unterstützen. Beten wir für Trost und Hoffnung in dieser ganz schwierigen Situation. Leider ist es nicht möglich, Hilfsgüter oder Helfer aus dem Ausland nach Syrien zu bringen. Das Land wird weiterhin vom Westen sanktioniert. Aber wir können unsere einheimischen Partner bei ihrer Nothilfe unterstützen, und das ist umso wichtiger, weil sie teilweise die Einzigen vor Ort sind, die mit Hilfe unserer Ressourcen anderen helfen. In manchen Flüchtlingslagern, in denen unsere Teams arbeiten, ist noch nicht einmal die UNO vertreten. Durch uns kann man Helfer unterstützen, die vor Ort auch langfristig einen Unterschied machen.

Das Wichtigste sagt einer unserer Teamkoordinatoren aus einem Flüchtlingslager in Nordsyrien: «Jetzt will die internationale Gemeinschaft uns helfen. Aber wenn die Kamerateams wieder abgereist sind, sind wir schnell vergessen. Das haben wir in den letzten Jahren schon so oft erlebt.» Das ist die syrische Realität – leider. Unsere Verantwortung ist es, ihnen zu zeigen, dass wir sie auch langfristig unterstützen, und dass ihr Schicksal für uns wichtig ist. Das tun wir als HMK schon seit vielen Jahren. Und es wäre so wertvoll, wenn viele sich hier für die Not der Syrer politisch und persönlich einsetzen.

Sehen Sie Hoffnung in all dem Leid?
Die Momentaufnahme ist für viele Betroffene sehr schmerzhaft. Aber im Kleinen dürfen wir miterleben, wie Menschen neue Hoffnung schöpfen. Erst am Wochenende konnte unser Team in das abgesperrte kurdische Stadtviertel von Aleppo Hilfsgüter bringen. Die Menschen dort haben alles verloren und hatten keinen Zugang zur Aussenwelt. Sie litten massiven Durst und Hunger, und wir konnten mit unserer Lieferung einen grossen Unterschied für sie machen. 

Syrien ist ein Land im Konflikt – die Gräben zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen haben sich im Krieg noch vertieft. Die jetzige Situation, in der alle aufeinander angewiesen sind, kann ein Gefühl von Zusammengehörigkeit erzeugen. Unsere Teams, die aus vielen Christen, aber auch Muslimen bestehen, helfen allen - Christen und Muslimen verschiedener Ausprägungen. Sie leben damit Versöhnung in einer unversöhnten und gespaltenen Gesellschaft. Sie spenden Trost und Hoffnung, und genau das wird jetzt gebraucht.

Quelle: HMK – Hilfe für Mensch und Kirche

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