Sonntag, 19. Mai 2024

Von Schafen, Königen und dem Mann aus Nazareth

Es gibt viele Eigenschaften, die einen guten Hirten beschreiben.
Die Bibel berichtet unzählige Male vom Beruf des Hirten. Welche Bedeutung hat er in der Bibel und und für uns heute? Und wie sieht das aus Perspektive der Schafe aus? Erläuterungen von Lydia Rieß.

Der erste in der Bibel genannte Beruf ist der des Hirten. Abel war Schafhirte und brachte Gott ein Opfer von seiner Herde, das im Gegensatz zum Opfer seines Bruders Kain angenommen wurde (1. Mose Kapitel 4). In späteren Geschichten sind Hirten häufige Nebenfiguren. Abraham und Lot haben zahlreiche Hirten, die ihre grossen Herden hüten (1. Mose Kapitel 13, Verse 5-7), und die Hirten Isaaks streiten sich mit den Hirten von Gerar über einen Brunnen (1. Mose Kapitel 26, Verse 20).

Oft war das Hüten von Tieren Familienangelegenheit. Rahel, eine der Stammmütter Israels, war Hirtin für die Schafe ihres Vaters Laban (1.Mose Kapitel 29, Vers 9) – der Beruf war also keine reine Männerdomäne – und Josef hütete mit seinen Brüdern gemeinsam das Vieh ihres Vaters Jakob (1. Mose Kapitel 37, Vers 2). Als Josefs Familie später nach Ägypten kam, um dort im Land Goschen zu wohnen, stellten Josefs Brüder sich dem Pharao als Schafhirten vor, die aus einer langen Reihe von Schafhirten stammten (1. Mose Kapitel 47,Vers 3).

David, der als Hirte die Schafe seines Vaters hütete, reiht sich dort also gut ein (1. Samuel Kapitel 16, Vers 11). Erst Davids Berichte lassen allerdings erahnen, mit welch grosser Verantwortung der Hirtenberuf verbunden war: Ein Hirte war für das Leben seiner Herde verantwortlich und musste diese bei Bedarf gegen Raubtiere verteidigen, indem er Angriffe abwehrte und Raubtiere sogar aktiv verfolgte, die Schafe von der Herde gerissen hatten (1. Samuel Kapitel 17, Verse 34-35).

Ein Gleichnis für Gott

Damit ist es nicht verwunderlich, dass David in Psalm Kapitel 23 gerade das Bild des Hirten wählte, um Gott zu beschreiben. Hirten waren etwas Alltägliches, etwas, das schon immer dagewesen und grundlegend für die Wirtschaft des Landes war: In Jeremia Kapitel 13, Vers 20 wird die absolute Verwüstung eines Ortes dadurch ausgedrückt, dass dort nie wieder Hirten lagern werden, später beschreibt der Prophet die Erneuerung eines Ortes damit, dass dort wieder eine Weide für Hirten entstehen soll (Jeremia Kapitel 33, Verse 12-13). Genauso wenig wie die Hirten war Gott aus der Geschichte Israels wegzudenken, und er war es, der Israel das Land gegeben hatte, in dem «Milch und Honig floss». Gleichzeitig symbolisierte der Hirte Sicherheit, Schutz und Führung. Der Hirte war derjenige, der Wasserquellen und Grasflächen kannte und der vor Raubtieren beschützte und somit auf zweifache Weise für das Leben der Schafe verantwortlich war. Gott als Beschützer und Versorger seines Volkes passt erneut gut in dieses Bild.

Das Bild von Gott als Hirte taucht von da an häufiger auf. Jesaja beschreibt Gott als fürsorglichen Hirten, der die Lämmer trägt und die Schafe sicher leitet (Jesaja Kapitel 40, Vers 11), Jeremia und Hesekiel als denjenigen, der seine zerstreuten Schafe sammelt und versorgt (Jeremia Kapitel 31, Ves 10; Hesekiel Kapitel 34, Verse 11-12).

Verantwortung und Menschenführung

Aber nicht nur Gott wird mit einem Hirten verglichen. Bereits Mose bittet Gott um einen «Hirten», der das Volk nach seinem Tod weiterführt. Gottes Antwort auf diese Bitte ist Josua (4. Mose Kapitel 27, Verse 17-18). Später klagt Gott durch Propheten wie Jeremia, dass die «Hirten» seines Volkes es vernachlässigen (Jeremia Kapitel 2, Vers 8; Kapitel 10, Vers 21; Kapitel 23, Vers 2; Kapitel 50, Vers 6) und verspricht an ihrer Stelle gute Hirten (Jeremia Kapitel 3, Vers 15; Kapitel 23, Vers 4) – also gute Fürsten oder Könige. Jeremia selbst erklärt, dass er sich als Prophet dem Hirtendienst nicht entzogen hat (Jeremia Kapitel 17, Vers 16). Und selbst König Kyrus, der Israel später aus dem Babylonischen Exil freilässt, wird als Hirte bezeichnet (Jesaja Kapitel 44, Vers 28). Als David König wird, wird er letztendlich vom Hirten zum Hirten.

Das hier gezeichnete Bild ist recht klar: Ein Hirte ist ein Anführer, der grosse Verantwortung trägt. Macht der Hirte seine Arbeit gut, geht es auch den Schafen gut; vernachlässigt er seine Arbeit, können die Schafe verlorengehen oder sogar sterben.

Die Schaf-Perspektive

Die Schafe sind also in einer absoluten Abhängigkeitsposition. Ihr Überleben hängt von der Qualität ihres Hirten ab. Gleichzeitig ist ihre eigene Aufgabe dadurch sehr einfach: Sie müssen dem richtigen Hirten folgen und auf ihn hören. Umso mehr ist die Frustration Gottes darüber verständlich, dass seine Schafe ständig weglaufen oder Hirten nachlaufen, die es nicht gut mit ihnen meinen.

Eine besondere Perspektive des Schafes ergibt sich, wenn man Jesaja Kapitel 53 betrachtet, den Abschnitt über den «Gottesknecht», der als Vorausdeutung auf Jesus verstanden werden kann. Denn der Mann, der dort beschrieben wird, ist eigentlich ein Hirte – ein Anführer und jemand, der sich für die anderen Schafe aufopfert. Aber er nimmt freiwillig die Rolle des Schafes ein – mit anderen Worten: Er nimmt ihre Perspektive ein, er liefert sich aus und begibt sich in eine absolute Demutsrolle. In Jesus wird also ein Hirte zum Schaf, um ihre Seite kennenzulernen, zu leben, zu erleiden und letztendlich zu erlösen.

Jesus, der gute Hirte

Im Neuen Testament setzt sich dieses Bild fort. Hirten sind die ersten, die den neugeborenen Jesus zu Gesicht bekommen (Lukas Kapitel 2), und stehen damit für den ganz normalen Durchschnittsmenschen, der nun direkten Zugang zu Gott hat. Jesus selbst greift den Hirten als Bild für Führung oder Führungslosigkeit mehrfach auf (Matthäus Kapitel 9, Vers 36; Kapitel 26, Vers 31; Markus Kapitel 6, Vers 34; Kapitel 14, Vers 27) und beschreibt sich als «guten Hirten», der sein Leben für die Schafe preisgibt, also seine Aufgabe bis hin zum Tod ernst nimmt. Besonders der Gedankengang in Johannes Kapitel 10,  Verse 1-30 führt dieses Bild weiter aus und liefert weitere Details. Jesus ist die «Tür zu den Schafen», ein Hinweis darauf, dass Hirten ihre Schafe in eine Umzäunung trieben und sich selbst als «Tür» in den Eingang setzten, um sie zu beschützen. Die Schafe folgen ihm, weil sie «seine Stimme kennen», ein Hinweis auf das Vertrauensverhältnis zwischen Schafen und Hirten. Jesus ist kein «Lohnarbeiter», sondern der wahre Besitzer der Schafe und damit umso mehr um ihr Wohlergehen bemüht. Dieser Hinweis wirft nochmal einen vertiefenden Blick zurück auf David: Dieser hütete die Schafe seiner Familie und hatte dadurch umso mehr Grund, die Herde mit seinem Leben zu verteidigen – im Grunde gehörte sie auch ihm. Später, als er König wurde, war es sein eigenes Volk, das er regierte, was ihm umso mehr Grund gab, ein «guter Hirte» zu sein und nicht bloss nach Macht und Reichtum zu streben.

Jesus erweitert dieses Bild: Er hat auch noch «andere Schafe», die er seiner Herde hinzufügen möchte. Ihm geht es darum, alle Schafe sicher zu wissen, nicht nur den kleinen Teil, der bereits ihm gehört. Er will ihnen «ewiges Leben» geben, und niemand darf sie «aus seiner Hand» rauben – ein Hinweis darauf, dass Jesus der ultimative Hirte ist: Er kümmert sich um alle, nicht nur um seine eigene Herde, er versorgt sie nicht nur, sondern schenkt unbegrenztes Leben, er beschützt nicht nur, sondern gibt sogar sein Leben. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lukas Kapitel 15, Verse 4-7) fügt eine weitere Dimension hinzu: Jesus sieht nicht nur die Grösse seiner Herde, sondern jedes einzelne Schaf. Was für die ganze Herde gilt, gilt auch für das Individuum.

Für seine Nachfolger setzt Jesus auch menschliche «Hirten» ein – Verantwortungsträger in der Gemeinde (Johannes Kapitel 21, Verse 15- 17; Apostelgeschichte Kapitel 20, Vers 28; Epheser Kapitel 4, Vers 11). Dabei bleibt Jesus selbst aber immer der «Oberhirte» (1. Petrus Kapitel 5, Verse 2-4).

Der gute Hirte – ein Bild mit vielen Dimensionen: der Alltagsmensch, der für das Leben in geregelten Zeiten steht, der Anführer, Prophet und Lehrer, der König, der Messias, und schliesslich Gott selbst.

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Autor: Lydia Rieß
Quelle: Magazin Faszination Spezial, SCM Bundes-Verlag

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