Netzgemeinde – eine Zukunft von Kirche

Kann eine komplett digitale Gemeinde überhaupt Gemeinde sein?
Kirche ist für viele das Gebäude mit dem Glockenturm. Gemeinde ist oft die Versammlung derer, die Jesus folgen möchten. Aber was, wenn das Ganze rein virtuell passiert? Kann so eine Netzgemeinde funktionieren – und ist es überhaupt Gemeinde?

Die Frage einer – nur – im Internet bestehenden Gemeinde ist ein Angriff. Sie stellt automatisch die bestehenden Kirchen und Gemeinden mit ihren Gottesdienstformaten infrage. Dabei wissen die Verantwortlichen, dass kein Weg an einer Online-Kultur vorbeigeht. Doch wie soll die aussehen? In der Praxis geschieht meist Folgendes. Auf dem Jahrestreffen eines Gemeindeverbands geht es auch ums Thema Digitalisierung. «Man sollte etwas anbieten», steht es im Raum. «Wir wollen doch auch Jüngere erreichen», wird der Fokus klargestellt. Und in der Konkretisierung wendet man sich oft an einen jüngeren Pastor, der schon mal einen Blog aufgesetzt und offensichtlich keine Angst vor Computern hat: «Könntest du dich nicht nebenbei darum kümmern? Also jedenfalls, wenn deine sonstige Gemeindearbeit nicht darunter leidet…»

Willkommen in der Realität! Allerdings in der Realität, die KEINE echte Zukunft hat, denn solche Bestrebungen nehmen den immer gleichen Weg: Mit wenig Zeit und noch weniger Mitteln wird ein Versuchsprojekt gestartet, das nach maximal zwei Jahren eingeschlafen ist, wobei die Kritiker wissend festhalten, sie hätten das gleich gewusst. Schade eigentlich, denn Netzgemeinde ist bestimmt nicht DIE Zukunft, aber sehr wohl EINE Zukunft von Kirche.

Was ist eigentlich Netzgemeinde?

Eine Netzgemeinde ist keine Gemeinde, die ihren normalen Gottesdienst auch als Livestream oder YouTube-Clip zur Verfügung stellt. Es ist vielmehr eine eigenständige Kirche oder Gemeinde, die nicht in der Bahnhofstrasse 17 verortet ist, sondern im Internet. Die nicht nur eine App hat, über die man sich zu Treffen verabreden kann, sondern die rein digital funktioniert: mit Online-Gebetsgemeinschaften, virtuellen Hauskreisen und allem, was die digitale Welt an Möglichkeiten bietet. Genauso wie eine Ortsgemeinde auch ein Zoomtreffen anbietet, kann diese Netzgemeinde sich natürlich auch einmal «vor Ort» treffen, doch das ist nicht ihr Ziel.

Wie diametral das dem landläufigen Gemeindeverständnis entgegensteht, wird schon an vielen Begriffen deutlich: Das beginnt bei der «Pfarrei», die an den «Amtsbezirk eines Pfarrers» gebunden ist, geht weiter bei einem Gemeindeverständnis, das bis weit in die Freikirchen hinein sehr gebäudezentriert ist, und hört noch lange nicht damit auf, dass die (katholische) Kirche weltweit die grösste Grundbesitzerin ist. Eine Gemeinde ohne Ort ist da für viele nur schwer vorstellbar. Vor allem, weil auch klassische Elemente von Gottesdiensten und Gemeinschaft neu gedacht werden müssen: Wie singt man zusammen? Wie nimmt man sich in den Arm? Wie feiert man Taufe und Abendmahl? Netzgemeinde hat nicht auf all diese Fragen eine Antwort, aber sie sucht sie und sie sucht sie im digitalen Raum, der mindestens für die sogenannten «Digital Natives» mehr ist als ein Computer auf dem Schreibtisch – es ist ihr Lebensumfeld geworden.

Kann Netzgemeinde Gemeinde sein?

Einmal abgesehen von der Wichtigkeit eines Versammlungsorts wirft die Idee einer Netzgemeinde die Frage auf, ob sie die typischen Elemente einer Gemeinde hat und haben kann. Und was sind diese überhaupt? Lehre, Gemeinschaft, Brotbrechen und Gebet, wie es in Apostelgeschichte, Kapitel 2, Vers 42 betont wird? Oder die sogenannten «Grundvollzüge» als Aufträge der Kirche: Diakonie (diakonia), Zeugnis (martyria), Gottesdienst (leiturgia) und Gemeinschaft (koinonia)? Gerade letztere zeigen, dass eine Netzgemeinde diese Aufträge durchaus umsetzen kann – und gleichzeitig, dass es schwierig bleibt und dafür neue Wege gefunden werden müssen. So ist Gemeinschaft nebeneinandersitzend leichter möglich, als wenn ich abends allein in meinem Wohnzimmer bin und mich in meinen Hauskreis dazuschalte. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass man auch eng zusammen sehr allein sein und «nur» online zusammen sehr verbunden sein kann. Scheinbar geht es durchaus.

Was sind Chancen und Grenzen der Netzgemeinde?

Keine Gemeinde erreicht alle Menschen. Sprache, Wohnort und Bildungsstand schaffen hier natürliche Räume. Die Chancen von Netzgemeinden liegen darin, dass sie Menschen erreichen können, die mit traditionellen Gottesdiensten nicht viel anfangen können, die regional abgeschnitten leben oder als Angestellte in der Gastronomie schlicht einen Zeitplan haben, der völlig inkompatibel zum klassischen Gemeindeleben ist. Wer seine Arbeit und sein Leben schwerpunktmässig online gestaltet, wird offen sein für virtuelle Angebote von Kirche, die das eigene Glaubensleben fördern oder erst ermöglichen. Eine echte Netzgemeinde hat viele Chancen und Möglichkeiten, wenn sie nicht in der Engführung stirbt, nur das Zusatzangebot einer lokalen Gemeinde zu sein.

Keine Gemeinde kann alle Wünsche und Möglichkeiten abdecken, das kann auch eine Netzgemeinde nicht. Wer jemanden braucht, der ihn oder sie in den Arm nimmt, muss heraus aus dem virtuellen Raum. Aber die grösseren Grenzen bestehen im Denken und falschen Erwartungen. Netzgemeinde wird höchstwahrscheinlich nie eine Online-Baptistengemeinde sein. Hier verschwimmen die klassischen Denominationen und werden noch unwichtiger, als sie es ohnehin schon für viele sind. Gleichzeitig steht die Frage nach einer professionellen Betreuung und Leitung im Raum, die technische, aber vor allem Personalkosten verursacht. Und das, obwohl der eigene Gemeindeverband vielleicht nicht profitiert.

Die Liste der Chancen und Grenzen liesse sich fast beliebig erweitern. Tatsache ist: Die Lebenswirklichkeit etlicher Menschen verschiebt sich stärker in den digitalen Bereich – und Aufgabe von Christen ist es, dort hinzugehen, wo sie andere erreichen. Dazu ist es allerdings nötig, dass Netzgemeinde nicht länger als Angriff auf etablierte Gemeindeformen gesehen wird. Sie wird die klassische Ortsgemeinde wohl nie ersetzen. Aber sie ist eine mögliche Gemeindeform der Zukunft, in der Anbetung, Gottesdienst, Nächstenliebe, Verkündigung und Gemeinschaft möglich sind. Eine Gemeinde ohne festen Ort, aber mit Jesus im Zentrum.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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