Sind die Paulusbriefe schwer verständlich?
Bei der Behandlung dieses Missverständnisses muss ich gleich zu Beginn ein Stück einräumen: Für uns im 21. Jahrhundert ist es tatsächlich nicht leicht, die Briefe von Paulus zu lesen. Der Apostel benutzt nun einmal keine einfache Alltagssprache.
Das Problem liegt dabei natürlich zum Teil bei uns selbst. Unsere Gesellschaft ist stark von einer Bild-Kultur geprägt und wir sind es immer weniger gewöhnt zu lesen. Aber wenn Sie Paulus schwierig finden, sind Sie in guter Gesellschaft: Nach 2. Petrus Kapitel 3, Verse 15-16 war man schon vor sehr langer Zeit derselben Meinung. Trotzdem möchte ich ein paar Punkte nennen, um zu erklären, wie Paulus geschrieben hat, und ihn ein bisschen verteidigen.
1. Im Kern klar
Als Erstes möchte ich festhalten, dass die grundlegenden Lehren der Paulusbriefe sehr klar sind. Im Römerbrief erklärt er zum Beispiel den Kern des Evangeliums, und Sie kennen bestimmt einige der grossartigen Passagen aus diesem Brief. Im 1. Korintherbrief weist er eine Gemeinde zurecht, in der (fast) alles getan wurde, was Gott verboten hat. Auch das ist sehr klar. Im Brief an Philemon weist er darauf hin, dass auch Sklaven Brüder (und Schwestern) sind, und stellt dadurch die gesellschaftlich verankerte Sklaverei infrage. Was wir schwierig finden, sind oft die Details, nicht die Kernaussagen. Darum rate ich Ihnen, sich beim Lesen auf die Hauptaussagen zu konzentrieren.
2. Wir kennen nur die Hälfte
Zweitens ist es nicht die Schuld von Paulus, dass wir nicht immer wissen, was er meint. Wenn man Briefe liest, die an andere gerichtet sind, ist das so ähnlich, wie wenn man ein Telefongespräch mithört: Man hört nur die eine Seite der Geschichte. Paulus’ Leser, die sich «am anderen Ende der Leitung» befanden, wussten zweifellos, was er meinte. So kannten die Kolosser natürlich die Irrlehre, die in ihrer Gemeinde kursierte, und die Korinther wussten, warum sie sich «für die Toten» taufen liessen (1. Korinther Kapitel 15, Vers 29). Uns liegen heute keine Informationen mehr über diese Dinge vor, und das ist auch nicht nötig.
3. Erläuterung ist nötig
Mein dritter Punkt hängt hiermit zusammen. Zur Zeit von Paulus war es die Aufgabe des Überbringers, einen Brief, den er oder sie überbrachte, zu erläutern, wie wir in Apostelgeschichte Kapitel 15, Verse 27 und 32 sehen. So wird Phöbe (Römer Kapitel 16, Vers 1) den Christen in Rom dabei geholfen haben, den Römerbrief zu verstehen, und Epaphroditus wird den Philippern, falls erforderlich, den Philipperbrief erklärt haben (Philipper Kapitel 2, Vers 25). Uns fehlt diese Hilfe und dadurch sind wir gegenüber den ersten Lesern im Nachteil, aber das ist nicht Paulus’ Schuld. Andererseits stehen uns natürlich Bibelkommentare zur Verfügung, in denen Theologen den Hintergrund eines Textes erläutern.
4. Alltagssprache
Viertens benutzte Paulus die Umgangssprache seiner Zeit, das Koinē-Griechisch. Daher ist es ein Missverständnis, dass die Bibel in «biblischer Sprache» geschrieben ist oder das Paulus absichtlich umständlich geschrieben hat. Als guter Lehrer stellte er oft Fragen, um seine Zuhörer bei der Stange zu halten, vor allem bei dem schwierigen Lehrstoff im Römerbrief. Zählen Sie einmal nach, wie viele Fragen er dort stellt, und achten Sie darauf, wie angenehm sich das liest. Im 1. Korintherbrief weist er mit den Worten «was … betrifft» deutlich darauf hin, dass er auf eine Frage der Gemeinde eingehen wird; Beispiele hierfür sind 1. Korinther Kapitel 7, Verse 1.25; Kapitel 8, Vers 1; Kapitel 12, Vers 1 und Kapitel 16, Vers 1.
5. Vergleichsweise einfach
Fünftens sind die Sätze von Paulus gut verständlich. Die meisten seiner Sätze sind sowieso ziemlich kurz; die wenigen Male, in denen sie tatsächlich lang sind, wie zu Beginn des Epheserbriefes, sind sie dennoch nicht unnötig kompliziert. Meist reiht Paulus einfach Satzglieder aneinander, die er mit Worten wie «und» verbindet und benutzt wenig Nebensätze. Menschen, die Griechisch verstehen, wissen, dass der Brief an die Hebräer in viel schwierigerem Griechisch geschrieben ist als die Paulusbriefe, und das Griechisch vieler anderer Autoren, zum Beispiel des jüdischen Historikers Josephus, ist sogar noch schwieriger.
Oft scheint der Apostel sogar die gesprochene Sprache zu benutzen; das sieht man dann, wenn die Grammatik eines Satzes nicht ganz korrekt ist. Das ist zum Beispiel in 1. Korinther Kapitel 2, Vers 9 der Fall, wo ein paar Worte fehlen, die in den meisten deutschen Bibelübersetzungen zum besseren Verständnis ergänzt sind. In 1. Korinther Kapitel 3, Vers 2 benutzt Paulus nur ein einziges Verb, wo eigentlich zwei nötig wären. Er schreibt: «Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht feste Speise». Was er meint, ist: «Ich habe euch Milch zu trinken gegeben, nicht feste Speise zu essen gegeben.» Hier formulieren die meisten deutschen Übersetzungen zum besseren Verständnis um; so schreibt beispielsweise die Neues Leben Bibel: «Milch habe ich euch gegeben, keine feste Nahrung…».
6. Zeitgemässe Übersetzung nötig
Punkt sechs: Manchmal liegt es an uns selbst, dass wir Paulus (und andere Verfasser von Bibeltexten) nicht verstehen – nämlich dann, wenn wir eine schwer verständliche oder zu alte Übersetzung benutzen. Wir dürfen annehmen, dass die Deutschen zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Luther-Übersetzung von 1912 verstanden haben. Aber die deutsche Sprache hat sich verändert und darum ist die Sprache der alten Lutherbibel für uns teilweise schwer verständlich. Weil Paulus und andere Bibel-Autoren die normale Umgangssprache ihrer Zeit benutzen, ist es unsere Aufgabe, ihre Texte in eine Sprache zu übertragen, die normale Menschen verstehen können.
Das geschieht leider nicht immer. In England gab es zum Beispiel im 17. Jahrhundert schon verschiedene gute Bibelübersetzungen. Als man die autorisierte Fassung in Angriff nahm, die als King-James-Übersetzung bekannt wurde, benutzte man absichtlich eine gehobene Sprache, um der Bibel mehr Ansehen zu verschaffen. So wurde die Bibel zu einem schwierigen Buch. Das finde ich schlimm!
7. Kantige Inhalte
Und schliesslich: Manche Menschen, die Paulus einen schwierigen Schreibstil vorwerfen, meinen eigentlich etwas anderes, nämlich, dass sie seine Worte zu hart, zu scharf oder zu streng finden. Diese Reaktion könnte dadurch begründet sein, dass Paulus einen schwachen Punkt in ihrem Leben anspricht. Diese Menschen fühlen sich auf den Schlips getreten, zum Beispiel dadurch, dass Paulus Sünde beim Namen nennt. Die Worte des Apostels tun weh und die Leser schlagen zurück. Spiegelt das auch Ihre eigene Erfahrung mit Paulus wider? Seien Sie in dem Fall ehrlich und geben Sie zu, dass unangenehm oder schmerzlich etwas anderes ist als schwer zu verstehen.
Jesus bekam übrigens das gleiche Feedback: «Viele nun von seinen Jüngern, die es gehört hatten, sprachen: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören?» (Johannes Kapitel 6, Vers 60). Diese Menschen verstanden Jesus sehr gut, aber sie nahmen Anstoss an seinen Worten. Jesus und Paulus richten sich nicht nach dem Geschmack der damaligen Menschen und auch nicht nach dem, was uns heutzutage gefällt.
Pfr. Dr. Pieter Lalleman war Dozent für Neues Testament am Spurgeon’s College, London, ist Herausgeber der Europäischen Theologischen Zeitschrift und lebt jetzt in Zwolle, Niederlande. Ähnliche Impulse gibt es im Magazin Faszination Bibel. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
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