Als Historiker die Wahrheit aufspüren

Im Livenet-Talk teilt Dr. Daniel Rickenbacher seine Sicht des Nahostkonflikts.
Im Livenet-Talk teilt Dr. Daniel Rickenbacher seine Sicht des Nahostkonflikts und spricht über die Wichtigkeit von identifizierbaren Quellenangaben in der Berichterstattung. Aus seiner eigenen Praxis erzählt er vom Bestreben, die Wahrheit zu finden.

Ruedi Josuran spricht mit Dr. Daniel Rickenbacher, Historiker, Lehrbeauftragter und Nahostexperte, über die aktuellen Geschehnisse im Nahen Osten und über unseren Umgang mit den Berichterstattungen. 

Ein Historiker enthüllt neue Sichtweisen 

Daniel Rickenbach ist ein klassischer Historiker, sein Ansatz besteht darin, zu den Quellen zu gehen, Fakten auszugraben und zu ergründen, wie sich ein Sachverhalt wirklich verhält. Das ist viel mehr als nur ein Zusammenzutragen von dem, was bereits andere geschrieben haben. «Mit dem Nahen Osten beschäftige ich mich schon lange», erzählt er und datiert den Beginn dieses Interessens auf die Zeit nach 9/11. «Damals begann ich, mich mit dem Islamismus zu beschäftigen.» 

Ruedi Josuran erwähnt, dass die Beiträge von Daniel Rickenbacher in der NZZ oft Sichtweisen enthüllen, die sonst weniger bekannt sind. Das betrifft beispielsweise die Hintergründe über die Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Wieso sind diese Leute überhaupt noch dort? Normalerweise flieht die Zivilbevölkerung aus dem Kriegsgebiet. Wieso können diese Leute nirgendwo hin und weshalb wird dieses Thema international nicht mehr diskutiert? 

Trotz bekannten Details ist das grosse Bild unklar 

Warum dauert der jüngste kriegerische Konflikt im Gazastreifen inzwischen schon so lange? Auf diese Frage hat Rickenbacher keine abschliessende Antwort, vieles sei ihm selbst ein Rätsel. Wieso werden militärische Aktionen Israels gegen die Hisbollah im Iran so schnell und gezielt durchgeführt, während sich der Konflikt in Gaza derart in die Länge zieht? «Ein Grund sind sicher die Geiseln, die noch immer dort sind», führt er einen von vielen Aspekten an, welche eine Rolle spielen. «Es scheint, dass Israel in viele Gebiete, wo die Geiseln gefangen gehalten werden, gar nie vorgerückt ist.» Dazu komme auch die internationale Diplomatie und die Tatsache, dass Israel keine Gebiete in Gaza besetzt und sich immer wieder zurückzieht. «Doch wieso genau der Krieg bereits seit knapp zwei Jahren andauert weiss ich nicht. In 20 oder 30 Jahren wird unser Bild der Ereignisse sicher ganz anders aussehen.» Über die diplomatischen Gespräche, in welche die USA, Katar oder die Türkei involviert sind, hätten wir nur wenig Kenntnisse. Genauso oberflächlich sei auch unser Wissen über die militärisch-strategischen Überlegungen Israels. 

Ideologie und Kultur verstehen 

Ruedi Josuran fragt nach dem grössten Missverständnis bezüglich des Nahostkonflikts. Rickenbacher erwähnt die allgemeine Schwierigkeit unserer Gesellschaft, Motive von Menschen nachvollziehen zu können, die nicht in der gleichen Art sozialisiert sind wie wir. Wir verstehen ökonomische Anreize, welche zu einem Handeln motivieren. «Doch Ökonomie ist nicht alles. Leute bringen auch ein ideologisches und kulturelles Gepäck mit.» Er wünscht sich, dass diese Dinge vermehrt an den Universitäten vermittelt werden. «An den Unis geschieht aber oft genau das Gegenteil. Man tabuisiert das und spricht von Kulturalismus und Rassismus.» Damit werde beispielsweise verhindert, dass man die Politik anderer Länder versteht. Gerade in Bezug auf den Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bezeichnet es Rickenbacher als grossen Mangel, dass wir nicht zu verstehen in der Lage sind, was Menschen aus anderen Kulturen zu einem solchen Handeln bewegt. 

Quellenangaben, Propaganda und «Bullshit-Detektor» 

Wo finden wir denn glaubwürdige Berichterstattung? Und welche Quellen können wir als glaubwürdig einstufen? «Grundsätzlich arbeite ich mit allen Quellen», sagt Rickenbacher. «Ich habe auch viel Propaganda angeschaut.» Auch daraus könne man gewisse Informationen rausnehmen. Dabei stelle er sich immer die Frage nach der Quelle. «Ein guter Journalismus macht die Quellen transparent.» Etwas zu lesen, bei dem die Quelle der Informationen nicht klar identifiziert werden kann, sei Grund für ein Warnzeichen. 

Rickenbacher gibt an, sich mit allen Quellen eingehend zu beschäftigen und nicht eine Auswahl an Lieblingsquellen zu treffen. Bei einer solchen Vorgehensweise sei aber eine gewisse Vorsicht geboten, denn nicht alle Informationen sollen unkritisch aufgesaugt werden. Für den Umgang mit unseriöser Berichterstattung habe er etwas wie einen «Bullshit-Detektor» entwickelt. Dazu gibt er ein Beispiel: «Wenn man bei einer Katastrophe innerhalb von Minuten eine genaue Opferzahl angibt, dann weiss man: Das kann nicht stimmen.» 

Sind wir noch an Wahrheit interessiert? 

Heute sei das Überprüfen von Informationen und damit verbunden die Wahrheitsfindung einfacher geworden. Gleichzeitig beobachtet Rickenbacher, dass es – stark ausgeprägt bei jungen Menschen – oft keine grosse Rolle zu spielen scheint, was überhaupt wahr ist. «Auch viele Journalisten sehen sich in einer politischen Funktion und als Teil einer Kampagne. Dann ist die Wahrheit nicht mehr so wichtig.» 

Im Talk kommt das Gespräch auch auf den politischen Islam, dessen Ursprünge und dass diese Dinge nie von der religiösen Komponente losgelöst sind. Am Ende erläutert Rickenbacher sein Anliegen, gewisse Sachverhalte zu beleuchten und gerade dort Licht reinzubringen, wo er es als nötig erachtet.

Sehen Sie hier den vollständigen Talk mit Daniel Rickenbach:

Zum Thema:
«Sohn der Hamas»:Den Nahostkonflikt besser verstehen 
Glaube in Zeiten des Krieges: Nahost-Christen aller Seiten suchen Einheit 
In Zeiten wie diesen...: Die einzige Hoffnung auf Frieden 

Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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