Die Bibel auslegen und eigenverantwortlich handeln
In Hesekiel Kapitel 34 kritisiert Gott die geistlichen Führer Israels scharf: Sie stärken die Schwachen nicht, suchen die Verlorenen nicht und kümmern sich nicht um die Verletzten. Stattdessen sorgen sie vor allem für sich selbst. Doch mitten in diese Klage hinein kündigt Gott einen wahren Hirten an – seinen Knecht David, der sich der Herde annimmt. Florian Sondheimer erklärt im Talk mit Markus Hänni: «Diese Verheissung weist auf Jesus hin. Die Szene zeigt, dass nicht alle, die leiten, auch wirklich Hirten sind. Aber sie weist auf den hin, der es ist: Jesus.»
Dieses Spannungsfeld zwischen religiöser Tradition und lebendigem Glauben ist auch Thema seines neuen Buches: «Glaubensspannungen reflektieren und eigenverantwortlich handeln». «Mein Anliegen ist, dass Menschen lernen, die Bibel in ihren Zusammenhängen zu verstehen, damit sie sie mit ihrem Alltag und dem Gemeindeleben verbinden können», erklärt Sondheimer. Denn Glaubensspannungen – etwa zwischen Gnade und Verantwortung, zwischen Erfahrung und Text, zwischen persönlichem Eindruck und biblischem Auftrag – gehören zum Glauben dazu. Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir damit um?
Zwischen den Zeilen lesen lernen
Sondheimer hat in biblischer Hermeneutik doktoriert – der Kunst, biblische Texte im historischen und theologischen Zusammenhang richtig zu deuten. Er erklärt: «Viele Christen neigen dazu, Bibelstellen isoliert oder ausschliesslich moralisch anzuwenden, ohne den Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen. Das führt oft zu Missverständnissen.» Die Hermeneutik hilft, den ursprünglichen Sinn zu erfassen und zwischen verschiedenen Auslegungsmethoden zu unterscheiden. So legt die pietistische Tradition meist den Schwerpunkt auf die persönliche Anwendung, während die reformatorische Sicht stärker den heilsgeschichtlichen Zusammenhang und die Gesamtbedeutung betont. Beide Perspektiven können sich ergänzen, wenn sie sorgfältig reflektiert werden.
Dabei helfen grundlegende Auslegungsfragen: Wer spricht? Zu wem? In welchem historischen und literarischen Kontext? Das Beispiel aus Matthäus Kapitel 10, Verse 1 und 8, das Sondheimer im Buch behandelt, verdeutlicht, wie wichtig Kontext bei der Bibelauslegung ist. Jesus richtet diesen Auftrag ausdrücklich an die Zwölf Apostel und beauftragt sie, nur zu den Israeliten zu gehen. Zudem sollen sie ohne Geld, Tasche oder Schuhe unterwegs sein – also in einer sehr konkreten, historischen Situation. Beziehen wir diesen Auftrag einfach direkt auf uns? Würden wir dann wirklich ohne Geld und barfuss losziehen? Faktisch neigen viele dazu, solche Verse einfach als einmalige, historische Ausnahme abzutun und sie «wegzustreichen». Doch das führt zu willkürlicher Auslegung. Wir können nicht nur die Verse für uns übernehmen, die bequem erscheinen, und andere ignorieren. Jede Auslegung muss zum Gesamtzusammenhang passen.
Wenn man eine Erzählung als Anleitung für das eigene Handeln verstehen will, dann muss diese Lehre klar und deutlich an anderer Stelle in der Bibel bestätigt sein. Erzähltexte zeigen vielmehr Beispiele dafür, wie Gott in der Geschichte gewirkt hat – sie sind keine unmittelbaren Verheissungen oder Gebote. Die Kunst der Hermeneutik besteht darin, diesen Unterschied zu erkennen und die Bibel im biblischen Kontext und in ihrer Gesamtheit zu verstehen.
Die Bibel verstehen – durch Begegnung
«Nur die Bibel gelesen zu haben, macht noch keinen Christen», sagt Sondheimer pointiert. «Verstehen können wir sie erst, wenn wir uns von Gott ansprechen lassen.» Deshalb lädt er seine Leserinnen und Leser zu einem Experiment ein: Wer Gott von ganzem Herzen sucht, wird ihn finden – nicht als rationalen Beweis, sondern als lebendige Begegnung. Gut, manches davon kann man zunächst als Zufall abtun. Doch mit der Zeit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Gott tatsächlich wirkt. Je mehr man solche Erfahrungen macht und bemerkt, wie sehr das Erlebte mit dem übereinstimmt, was die Bibel beschreibt, desto wahrscheinlicher wird es, dass die biblische Botschaft Wahrheit enthält. So heisst es in Römer Kapitel 8, Vers 16: «Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.» Und in Jeremia Kapitel 29, Vers 13 verspricht Gott: «Ihr werdet mich suchen und finden, wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht.» Diese persönliche Begegnung ist der Schlüssel, um Glauben lebendig werden zu lassen und die Bibel wirklich zu verstehen.
Auch beim Verstehen des grossen Bogens der Heilsgeschichte braucht es mehr als reines Wissen – es braucht eine lebendige Beziehung zu Gott. «Die Bibel ist kein abstraktes System oder eine Sammlung von Regeln, sondern das Zeugnis davon, wie Gott mit uns Menschen in Verbindung tritt», erklärt Sondheimer. Dieses Verständnis gibt Orientierung, selbst wenn das Gottesbild erschüttert ist oder man mit schmerzhaften Erfahrungen ringt. Besonders im Umgang mit Vergebung zeigt sich, wie tief diese Beziehung wirkt. Dabei ist es wichtig, zwischen Vergebung, Verzeihen und Versöhnung zu unterscheiden: Vergebung ist oft ein innerer Prozess, bei dem man Schuld loslässt; beim Verzeihen wird auch das Gegenüber angesprochen; und Versöhnung bedeutet die Wiederherstellung der Beziehung zwischen den Menschen – ein oft längerer, gemeinsamer Weg. «Im biblischen Verständnis gehören Vergebung, Verzeihen und Versöhnung untrennbar zusammen und sind zentrale Elemente der Heilsgeschichte, die Menschen den Weg zu Freiheit, Frieden und erneuerten Beziehungen mit Gott und anderen eröffnet (vgl. 2. Korinther Kapitel 5, Verse 18-19).»
Glaube braucht Bewusstsein – und Verantwortung
Am Ende geht es nicht nur um Erkenntnis, sondern um gelebte Konsequenzen. Führt die Reflexion von Glaubensspannungen zu mehr eigenverantwortlichem Handeln? «Ja», erklärt Sondheimer überzeugt. «Denn wer sich ernsthaft mit der Bibel auseinandersetzt, wird herausgefordert – zum Vertrauen, zur Umkehr und zu innerem Wachstum.»
Sein Buch ist tiefgründig und bietet weit mehr als einfache fromme Antworten. Es lädt dazu ein, den Glauben mit Herz und Offenheit neu zu entdecken.
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