Christen sind zur Freiheit befreit

Schmetterling eingesperrt im Haus
Der christliche Glaube soll frei machen. Das gehört zu seinem Wesen. Trotzdem suchen Christen seit alten Zeiten immer wieder feste Rahmen und klare Regeln. Der Apostel Paulus sieht das kritisch.

«Mal ganz ehrlich, Paulus: Ihr hattet damals vielleicht Probleme… Gut, dass wir uns heute nicht damit herumschlagen müssen.» Solche Gedanken gehen dir vielleicht durch den Kopf, wenn du im Neuen Testament auf Aussagen stösst wie «Vermeide Auseinandersetzungen über Geschlechtsregister». Wann gab es deswegen in deiner Gemeinde den letzten Streit? Ich vermute mal, dass er Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückliegt, denn wer liest sich heute regelmässig die Geschlechtsregister der Bibel durch, also zum Beispiel, dass die Nachkommen Joels Schemaja, Gog, Simei, Micha, Reaja, Baal und Beera hiessen (siehe 1. Chronik)? Und diejenigen, die es lesen, würden wohl nicht darüber streiten.

Ähnliches gilt für viele Dinge, die Paulus und seine Kollegen in ihren Briefen angesprochen haben: Beschneidung, das Einhalten jüdischer Feiertage und Reinheitsvorschriften aus dem Alten Testament. Allerdings erlebt einiges hiervon seit Längerem eine Renaissance.

Renaissance der alten Regeln

Da gibt es Gemeinden, die feiern einen Sederabend oder das Passahmahl, um der jüdischen Wahrnehmung und den symbolischen Bedeutungen dieser Feiern so nah wie möglich zu kommen. Andere stellen fest, dass auch die jüdischen Gesetze im Wort Gottes stehen und von daher mehr sind als nur antike Empfehlungen. So bemühen sie sich herauszufinden, welche dieser Regeln sinnvoll einzuhalten sind. Bei aller Bibeltreue hält sich niemand an alle alttestamentlichen Gebote, doch sie fragen: Was gilt für uns heute?

In manchen Gottesdiensten wird das Schofar geblasen, das Widderhorn – genau: Das waren die Hörner bzw. Posaunen, die die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten –, um diese Macht Gottes auch heute zu unterstreichen. Manche der alten Regeln bekommen von Christen eine zusätzliche, zeitgemässe Begründung: Da erhält das Bundeszeichen der Beschneidung eine medizinische Komponente. Und das Verbot von Schweinefleisch wird aus einer Mischung von religiösen und gesundheitlichen Gründen abgelehnt – obwohl wissenschaftliche Untersuchungen letztere eher nicht bestätigen. Tatsache ist auf jeden Fall, dass etliche alte Regeln und Gesetze neue Anhänger finden. Das muss nicht schlimm sein, aber es stellt sich die Frage, warum es so ist.

Sehnsucht nach Sicherheit

Rituale und Traditionen stiften Identität. Gerade in einer Zeit, in der vieles beliebig erscheint, wächst die Sehnsucht nach Sicherheit. Nach Grenzen. Nach Regeln. Dem gegenüber steht die wahrgenommene Multioptionalität – fast alles ist möglich. Heute steht sicher nicht mehr die Frage im Mittelpunkt, ob wir zuerst Juden werden müssen, um anschliessend als Christen leben zu können. Das war der Kontext bei Paulus, Petrus und Co. Aber der Hintergrund ist derselbe: Wenn du die Bibel ernst nimmst, sollte es dann nicht richtig, wichtig und segensreich sein, wenn du dich auch am Rahmen des Alten Testaments orientierst? Für einige Christen bedeutet das, dass sie sich über diese Traditionen informieren und sie respektieren. Sie feiern dann zum Beispiel ein Sedermahl, um es nachvollziehen zu können. «Gesetzlich» ist das nicht. Aber für etliche schwingt hier mehr mit. Da wird das Einhalten dieser Regeln und Bräuche zum Gradmesser, wie bibeltreu man ist. Einem liberalen Zeitgeist werden dabei alte Traditionen entgegengehalten, als würden sie für einen gläubigen Menschen heute Sicherheit bieten.

Forderung nach Freiheit

An dieser Stelle kommt der Apostel Paulus mit einem seiner zentralen Anliegen ins Spiel: Er spricht an vielen Stellen von der Wichtigkeit der Gebote, doch er stellt immer wieder klar, dass ihr Einhalten keine Vorzüge bietet, «weil aus Werken des Gesetzes kein Fleisch gerechtfertigt wird». In heutigen Worten: Ihr Befolgen bietet keine Sicherheit, höchstens eine trügerische. Sein gesamter Galaterbrief, aus dem auch die obige Aussage stammt, dreht sich um diese Gedanken. Er gipfelt in der Aufforderung, den christlichen Glauben in einer radikalen Freiheit zu leben: «So steht nun fest in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wieder in ein Joch der Knechtschaft spannen!»

Für manche ist dies bereits auf den ersten Blick «Evangelium», also eine gute Nachricht. Endlich frei zu sein von Lasten, Schuld und Gebundenheit ist ein grosses Geschenk. Für andere hört sich diese Freiheit vielleicht ungewohnt an. Sie suchen eher einen festen Rahmen als ein freies Feld. Aber was Paulus bietet, ist etwas anderes. Er betont, dass weder Rituale noch Traditionen Sicherheit bieten, sondern Halt und gleichzeitig Freiheit nur bei Jesus zu finden sind. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer meinte dazu: «Nachfolge ist Bindung an Christus.»

Zum Thema:
Die «Trotzdem»-Freude: Paulus' Philipper-Perspektive 
Pausenlos beten?: Wie man Paulus' Aufforderung im Alltag umsetzen kann
Die Kultur der Gleichberechtigung: Wie Jesus alte Traditionen ins Wanken brachte 

Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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