Ein nicht so radikales Leben als Christ
Brad East, ein Theologe aus Yale, wurde von Russel Moore, dem Chefredakteur von «Christianity Today», bei einem Interview gefragt, was er seinem jüngeren Selbst gern sagen würde. Dabei rutschte ihm heraus: «Du musst gar nicht radikal sein, um Christ sein zu können.» Zu seiner Highschool-Zeit war es gerade in, radikal für Jesus zu sein. Darin waren sich US-Jugendpastoren, engagierte Liedermacher und Autoren einig – und das galt selbstverständlich auch in Europa.
Vier Schritte eines radikalen Christseins
East identifiziert vier Schritte, die für ihn lange selbstverständlich zu einem radikalen Christsein gehörten – dem Glaubensleben, das er erstrebte. Erstens ging er in besonderer Weise von dem aus, was in den Evangelien stand. Das Alte Testament oder die Briefe des Paulus interessierten ihn weniger: Relevant war, was Jesus selbst sagte. Zweitens stand das normale christliche Leben in Kirchen und Gemeinden für ihn im Widerspruch zu diesen Lehren von Jesus. Jesus war radikal, die Kirche war «weichgespült». Drittens widersprachen die radikalen Aussagen von Jesus dem normalen bürgerlichen Lebensstil, einem Dasein zwischen Ehe, Kindern, Arbeit, Hypothek und Urlaub. Man musste bereit sein, all das für Jesus zu opfern – darauf kam es an.
Schliesslich gab es noch die Helden der radikalen Nachfolge: Mönche, Missionare und Märtyrer. Das begann bei Franz von Assisi, der seinen gesamten Besitz verschenkte und reichte bis hin zu Dietrich Bonhoeffer, der von den Nazis hingerichtet wurde. Ein aktueller Held dieses Denkens ist der Christ und Aktivist Shane Claiborne, der in einer Lebensgemeinschaft mitten in einem armen Viertel von Philadelphia lebt. East fasst die Erkenntnisse seiner Jugend so zusammen: «Ich lernte, dass es solche und solche Christen gibt – Menschen, die sich zum Christentum bekennen, und Menschen, deren Leben ihren Glauben ausdrückt.»
Täter, nicht Hörer
Klar wollte East kompromisslos Christ sein, «Täter des Wortes und nicht bloss Hörer, die sich selbst betrügen» (Jakobus, Kapitel 1, Vers 22). Er hatte auch vor Augen, dass «nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! […] in das Reich der Himmel eingehen [wird]» (Matthäus, Kapitel 7, Vers 21). Also verbrachte er seine Sommerferien in Missionsprojekten, half in einer Obdachlosenunterkunft aus und suchte überall nach Möglichkeiten zu geben, zu opfern und zu leiden. Seine Frau half ihm damals zu einer breiteren Perspektive, weil sie sich ein Familienleben in Armut nicht vorstellen konnte.
Was für East erst sehr herausfordernd – weil nicht so fromm klingend – war, ist heute seine Realität: Journalist und Dozent, der mit seiner Familie in einem netten Haus lebt. Was ihm in der damaligen Lebensphase sehr wichtig war, entdeckt er heute bei seinen Studenten und fragt sich, worin die Anziehungskraft dieser Radikalität liegt. Ob es daran liegt, dass sie ein Mittelstandsleben aus der Normalität heraushebt und etwas Besonderes daraus macht?
Kirche ist unbefriedigend, aber sie ist Kirche
Wer radikal nachfolgen will, der sieht in den Kirchen und Gemeinden um sich herum viel Unvollkommenheit. Manche verachten sie dann als korrupte oder bestenfalls rein menschliche Institution, die von Jesus und seinen «eigentlichen» Lehren nur ablenkt. Da ist etwas dran. Wo Christen auf Abwege geraten sind, ist es angezeigt, dass sie umkehren. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass Kirche schon immer voller fehlerhafter Sünder war – dass das geradezu ihr Erkennungszeichen ist. East kommt für sich zu dem Schluss: «Ja, Radikale sind gläubige Christen. Aber ihr Weg ist nicht der einzige Weg für ein christliches Leben. Tatsächlich liegt er für die meisten Gläubigen zu den meisten Zeiten und an den meisten Orten so weit ausserhalb der Norm, dass ich vorschlage, das Wort ‹radikal› aus unserem christlichen Vokabular zu streichen.» Warum? Weil die Christen jahrhundertelang ohne diesen Begriff auskamen und weil er heutzutage so inflationär verwendet wird, dass er bereits nichts mehr aussagt – schliesslich ist fast alles «radikal».
Nicht alle sind Heldinnen und Helden
Die Mehrheit der Gläubigen sind ganz normale, unscheinbare Menschen. Sie sind weder Helden noch Heilige und behaupten das auch nicht. Sie kämpfen keine Gebetskämpfe, sondern danken vor dem Essen. Sie glauben an Gott, bekennen ihre Sünden und suchen Vergebung bei Jesus. Sie sind wie der namenlose Vater in Markus, Kapitel 9, der zu Jesus rief: «Ich glaube, Herr; hilf mir, loszukommen von meinem Unglauben!» Sie sind gewöhnliche Menschen – wir sind gewöhnliche Menschen! Vielleicht wäre das Christentum als Religion beeindruckender, wenn es darin mehr Heldinnen und Helden gäbe, aber dann wäre das Evangelium keine gute Nachricht mehr für die Verzweifelten oder die am Rand Stehenden. Dann wäre es für Stars, aber nicht für Sünder. Gut, dass Glaube nicht nur radikal ist. So ist Gott für alle da, die das nicht hinbekommen. Brad East meint dazu: «Das ist wirklich eine gute Nachricht. Es ist auch ein schrecklicher Skandal. Und genau darum geht es.»
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