«Nich sofil Zait…»
«Lieber Papa, ich mak dich, auch wen du nich so fil Zait hast!» Diese Zeilen unter einem kleinen, mit Buntstiften gemalten Bild lassen mich schlucken. Meine Jüngste bringt kindlich liebevoll auf den Punkt, wie sie ihren Kinderalltag erlebt: mit wenig Zeit von mir.
Voll erwischt. Mir kommen die Tränen. Das Bild landet für ein paar Jahre an der Wand in meinem Büro – und oft hilft es mir, den Absprung aus eben diesem zu schaffen und noch gerade rechtzeitig nach Hause zu fahren.
Noch so viel zu tun…
Begeistert Berufung zu leben und gleichzeitig nahbarer und präsenter Papa für meine drei Kinder zu sein – das habe ich oft als eine unglaublich grosse Herausforderung empfunden. Ich erlebe, dass meine Arbeit als Leiter in einer christlichen Grundschule nie «zu Ende» ist. Oft bin ich mit schlechtem Gewissen aus der Schule gefahren – «noch so viel zu tun!» –, um dann zu Hause mit schlechtem Gewissen – viel später als angekündigt – einzutreffen. Das kam auch bei meiner Frau meist nicht gut an: «Na, musstest du noch Autogramme verteilen? Oder hast du den Weg nach Hause nicht gefunden?», war manchmal ihr Kommentar, wenn ich müde meine Schultasche im Flur abstellte. Ich bin ihr so dankbar, dass sie für mich und vor allem unsere Kinder immer zu Hause war!
Ich kann keinen Spagat und erlebe, dass die wenigsten Väter und Leiter darin gut sind. Ich habe lange gebraucht, um klarzukriegen, dass meine beiden Antreiber «Mach es allen recht!» und «Sei perfekt!» zwar viel Qualität in meine Arbeit bringen, aber gleichzeitig das Potenzial haben, mich und meine Familie zu zerstören. An meinem Bildschirm hängt ein mittlerweile verblasstes Post-it: «80 Prozent reichen!» und «Fehler sind wichtig!» Ein Post-it erinnert mich zwar, hilft aber auf Dauer nicht. Um irgendwann den Hammer fallen zu lassen beziehungsweise den Rechner herunterzufahren, haben mir diese Festlegungen geholfen:
Konkrete Schritte
1. Familienzeit einplanen: Der Mittwochnachmittag ist für Zeit mit der Familie reserviert. An diesem Tag fahre ich sehr früh nach Hause. Es ist ein fester Termin in meinem Kalender. Diesen einzuhalten, fällt mir trotzdem immer noch schwer. Damit das klappt, musste ich das meinen Mitarbeitern kommunizieren. Es kostete mich Überwindung. Erstaunlicherweise fand es niemand doof – im Gegenteil. Einige kommen sogar, wenn ich noch nicht wie vereinbart losgefahren bin, und erinnern mich: «Didi, wolltest du nicht nach Hause?»
2. Schluss machen anbahnen: Mindestens eine halbe Stunde, bevor ich eigentlich los will, nehme ich keine Anrufe mehr an und schliesse Outlook – sonst hänge ich wieder drin.
3. «16/18-Regel» im Team: Bis 16 Uhr müssen Mails gelesen werden, danach nicht mehr. Nach 18 Uhr und am Wochenende schreiben wir uns nicht. Im Notfall bin ich immer erreichbar, aber alles andere kann warten. Und so praktisch es auch manchmal wäre: Wir haben keine WhatsApp-Gruppe als Team. Sonst vermischen sich Zeiten von Beruflichem und Privatem noch mehr.
4. ABC-Zeiten: Allein, auf einem Berg, mit Christus – frei nach der Erzählung im Evangelium Markus, Kapitel 9, wo Jesus drei seiner Jünger für eine besondere Zeit mit auf einen Berg nimmt. Ich brauche Zeit allein mit Jesus, damit ich sowohl für meine Familie als auch für meine Mitmenschen auf der Arbeit ein Versorger sein kann. Thomas Härry schreibt in seinem Buch «Von der Kunst, sich selbst zu führen»: «Meine versorgte und gesättigte Seele ist meine wichtigste Ressource, um ermutigt arbeiten und Menschen dienen zu können. Es ist eine Seele, die von der persönlichen Begegnung mit Christus herkommt und deshalb mit Zufriedenheit, Vertrauen und Liebe erfüllt ist.»
Diese ABC-Zeiten nehme ich mir…
... täglich: zu Hause mit einem Kaffee im Wohnzimmer am Morgen
... wöchentlich: zweimal in meinem Büro für 20 Minuten mit der Bibel oder einem anderen Buch
... jährlich: eine Auszeit von drei Tagen auf einer Nordseeinsel.
Meine jüngste Tochter ist mittlerweile das einzige Kind, das noch zu Hause ist. Sie malt inzwischen eher mit Nagellack und ihre Rechtschreibung hat sich deutlich verbessert. Fast täglich nehme ich sie auf meinem Weg in die Schule mit und geniesse die Zeit im Auto mit ihr. Wir haben eine gute Beziehung. Dafür bin ich unglaublich dankbar! Spagat übe ich immer noch. Aber ich erlebe, dass ich über die Zeit beweglicher geworden bin.
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